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Wir Kinder der Kriegskinder

Wir Kinder der Kriegskinder

Titel: Wir Kinder der Kriegskinder
Autoren: Anne-Ev Ustorf
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einzusetzen bei der jungen Mutter. So wie es möglich wurde, im Laufe einer jahrzehntelangen sorgfältigen Arbeit infektionsfreie Reinlichkeit bei der Geburt zu erzielen und das Kindbettfieber auf wenige Fälle zu beschränken, so muss und wird es möglich sein, durch eine gründliche Ausbildung der Schwestern und der Mütter selber schon in den ersten Jahren des Kindes eine Behandlung herbeizuführen, die zur vorzeitigen Grundlage für die spätere Entwicklung dient.“

    Die „Behandlung“, an die Hitler bereits 1925 dachte, wurde knapp zehn Jahre später von der Ärztin Johanna Haarer für die breite Öffentlichkeit ausformuliert. Die leidenschaftliche Nationalsozialistin und fünffache Mutter trat 1934 mit ihrem Ratgeber und politischen Propagandawerk Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind in Erscheinung. Sie propagierte darin einen Erziehungsstil, der ganz dem Sinne der Nationalsozialisten entsprach.Hauptanliegen Haarers war, dem Kind seinen Willen zu nehmen, es den Eltern und allen weiteren Autoritäten gefügig zu machen und es physisch und psychisch abzuhärten. „Vorüber sind die Zeiten, wo es erstes und oberstes Ziel aller Erziehung und Aufzucht war, nur die Eigenpersönlichkeit im Kind und Menschen zu vervollkommnen und zu fördern“, schrieb sie. „Eins ist heute vor allem Not, nämlich, dass jeder junge Staatsbürger und Deutsche zum nützlichen Glied der Volksgemeinschaft werde“.
    Haarer empfahl verschiedene Methoden, um dem Kind Folgsamkeit beizubringen. So sollte das Neugeborene nach der Geburt 24 Stunden lang allein in einen abgedunkelten Raum gelegt werden. Sein Schreien musste ignoriert werden, sonst könnte es bereits zu diesem Zeitpunkt zu einer ersten Verzärtelung des Kindes kommen. Auch danach durfte den Bedürfnissen des Kindes keinesfalls nachgegeben werden: Das Baby sollte nur zu bestimmten Zeiten gestillt oder gefüttert werden und von klein auf angehalten werden, regelmäßig aufs Töpfchen zu gehen. Körperkontakt und Zärtlichkeiten waren weitestgehend tabu. Auf Gefühle oder Ängste des Kindes durfte ebenfalls keine Rücksicht genommen werden, schließlich sollte das Kind abgehärtet werden. Unterwarfen sich die Kinder wiederholt nicht dem Willen der Eltern, sollten sie zur Strafe eine Weile aus der Familie entfernt werden.
    Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind erreichte innerhalb kürzester Zeit enorme Auflagenzahlen, bis Kriegsende stieg die Auflage auf 690.000 Exemplare an. Es erschien, wie der Historiker Gregor Dill erläutert, gerade rechtzeitig zum Auftakt der von der NS-Frauenschaft initiierten Reichsmütterschulungen, die allen „arischen“ Frauen reichseinheitlich dieselben Säuglingspflegeregeln zu vermitteln versuchten. Die Haarer-Bücher dienten den Kursen als Lehrmittelgrundlage. Über 3.000 spezifisch ausgebildete Wanderlehrerinnen reisten bis in die entlegensten Gebiete des Landes, um dort ihre einheitlich geplanten Lehrgänge abzuhalten. In den Großstädten wurden festeMütterschulen eingerichtet. Bis April 1943 besuchten drei Millionen junge Frauen diese Kurse.
    Natürlich wird nicht jede Mutter ihr Kind strikt nach Haarers Vorgaben aufgezogen haben – viele Mütter werden an diesen Kursen eher aus Zwang denn aus freiem Willen teilgenommen haben. Dennoch sickerten Haarers Erziehungstipps ins kollektive Unbewusste, was auch daran deutlich wird, dass sich das Buch unter dem leicht veränderten Titel „Die Mutter und ihr erstes Kind“ auch nach dem Krieg noch gut verkaufte. Bis in die 1960er Jahre wurde in vielen deutschen Krankenhäusern noch Säuglingspflege nach Haarer betrieben, die letzte Auflage von Haarers Erstlingswerk erschien 1987.
    Auch meine Großeltern ließen ihre Babys schreien, auch wenn es sie oft Überwindung gekostet haben mag. Und noch heute behaupten manche Eltern, dass es „die Lungen stärke“, wenn man ein Neugeborenes schreien ließe.

    Die Psychologin Sigrid Chamberlain untersuchte die Auswirkungen der nationalsozialistischen Erziehung in ihrem Buch Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind und glaubt, dass viele Kriegskinder mit nationalsozialistischen Prägungen ins Leben entlassen wurden, ohne sich dessen bewusst zu sein. „Sich von klein auf betäuben zu müssen, die eigenen Gefühle und Empfindungen nicht wahrnehmen zu können, das ist eine der Folgen faschistischer Erziehung“, schreibt Chamberlain. „Wie auch das Zeigen von Gefühlen, wenn diese sich irgendwann nicht mehr zurückhalten lassen, als
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