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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen
Autoren: Carsten Jensen
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wenn sie überhaupt nicht kämen.»
    Wir brummten zustimmend. Und obwohl wir einsahen, dass der Standpunkt des Kontrolleurs vernünftig war, blieb es doch eine herbe Enttäuschung. Wir waren bereit, dem Deutschen und dem Tod in die Augen zu sehen, und nun war keiner von beiden auf Ærø an Land gegangen.
    «Der Deutsche soll sich bloß vorsehen», sagte Lars Bødker.
     
    Wir spürten die Müdigkeit und machten uns auf den Heimweg. Ein kühler Nachtregen fiel, und niemand sagte ein Wort, bis wir die Mühle erreichten, an der sich Madame Weber von unserer niedergeschlagenen
Truppe trennte. Sie baute sich direkt vor uns auf und hielt die Heugabel in der Hand, als präsentierte sie ein Gewehr.
    «Ich wüsste nur zu gern», sagte sie mit drohender Stimme, «wer der Spaßvogel war, der ehrbare Leute dazu bringt, mitten in der Nacht ihre Betten zu verlassen, um in den Krieg zu ziehen.»
    Wir alle starrten Laurids an, der mit seinem Besen über der Schulter aus unserer Mitte herausragte.
    Doch Laurids zog weder den Kopf ein, noch senkte er den Blick. Stattdessen schaute er uns an. Dann lehnte er sich zurück und begann, direkt in den Regen hineinzulachen.

    Bald schon wurde es ernst mit dem Krieg. Wir wurden zur Marine eingezogen. Der Kriegsdampfer Hekla legte im Nachbarort Ærøskøbing an, um uns abzuholen. In einer Reihe standen wir am Pier und wurden einer nach dem anderen aufgerufen, bevor wir an Bord der Barkasse sprangen, die uns zu dem Dampfer bringen sollte. An jenem Abend im November hatten wir uns um den Krieg betrogen gefühlt, doch nun war die Wartezeit vorbei und der Mut groß.
    «Ahoi, hier kommt ein Däne mit Leib und Seele, und der hat einen Seesack dabei!», schrie Claus Jakob Clausen.
    Er war ein kleiner, sehniger Mann, der immer damit prahlte, dass ein Tätowierer in Kopenhagen, der auf den Namen Stichel-Frederik hörte, einmal zu ihm gesagt hatte, er habe den härtesten Arm, in den er jemals eine Nadel gestochen hätte. Clausens Vater, Hans Clausen, war wie sein Großvater vor ihm Lotse gewesen. Das war der Weg, den ganz sicher auch Claus Jakob gehen würde, denn in der Nacht vor der Einschiffung hatte er einen Traum gehabt, der ihm verkündete, dass er lebend aus dem Krieg zurückkäme.
    In Kopenhagen wurden wir für die Fregatte Gefion angemustert. Laurids wurde von uns Übrigen getrennt und kam als Einziger auf das Linienschiff Christian VIII. , dessen Großmast so hoch war, dass der Kirchturm von Marstal anderthalbmal in den Abstand zwischen Masttopp und Deck gepasst hätte. Uns wurde schwindlig und wirr, wenn wir den
Kopf in den Nacken legten, doch es war diese Art von Schwindel, die zu Stolz führt, denn wir begriffen, dass wir einberufen waren, um große Taten zu vollbringen.
    Laurids blieb zurück und sah uns nach. Die Christian VIII. passte zu ihm. Er würde sich an Deck wie zu Hause fühlen, er, der einst ein Jahr auf dem amerikanischen Kriegsschiff Neversink gefahren war. Dennoch dachten wir, dass er sich einen Moment lang verlassen gefühlt haben musste, als er uns auf der Gangway der Gefion verschwinden sah.
     
    Dann liefen wir aus, um in den Krieg zu ziehen. Palmsonntag segelten wir die Küste von Ærø entlang. Wir sahen die Steilküste bei Vejsnæs, wo Laurids die Insel völlig konfus gemacht hatte mit seinem: «Der Deutsche kommt!» Jetzt kam der Däne, und die Reihe war an den Deutschen, Teertonnen zu entzünden und wie kopflose Hühner umherzurennen.
    Wir lagen vor Als und warteten. Am Mittwoch nahmen wir Kurs auf die Eckernförder Bucht und erreichten die Mündung am späten Nachmittag. Auf dem Achterdeck wurden wir zusammengerufen. Wir waren ein bunter Haufen in unseren Friespullovern und Tuchhosen in den unterschiedlichsten Farben, manche blau, andere schwarz oder weiß. Nur das Band mit dem Namen Gefion um unsere Mütze und die rot-weiße Kokarde verrieten, dass wir Matrosen auf einem Kriegsschiff des Königs waren. Der Kommandant, der seinen feinsten Uniformmantel mit Epauletten und Säbel trug, hielt eine Rede und forderte uns auf, wie tapfere Burschen zu kämpfen. Er schwang seinen Dreispitz und brachte ein dreifaches Hurra auf den König aus. Wir stimmten ein, so laut wir konnten. Dann befahl er, sämtliche Kanonen abzufeuern, damit wir erfuhren, wie es während eines Gefechts zuging. Niemand von uns hatte je einen Krieg erlebt. Erst donnerte es übers Meer, dann roch es scharf nach Pulver. Es hatte ziemlich aufgefrischt, und der blaue Rauch der Kanonen wurde vom Wind
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