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Wintersturm

Titel: Wintersturm
Autoren: Mary Higgins Clark
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vermietete, daß es nach telefonischer Anmeldung besichtigt werden konnte.
    Raynor Eldredge. Er lächelte bei dem Gedanken an diesen Mann. Was würde Ray morgen denken, wenn er den Zeitungsbericht las? Hatte Nancy Ray je gesagt, wer sie war?
    Vielleicht nicht. Frauen konnten durchtrieben sein. Wenn Ray nicht Bescheid wüßte, wäre es sogar noch besser. Wie herrlich wäre es, Rays Gesichtsausdruck tatsächlich beobachten zu können, wenn er die Zeitung aufschlug! Sie wurde morgens kurz nach zehn zugestellt. Ray würde in seinem Büro sein.
    Einige Zeit lang würde er sie vielleicht nicht einmal beachten.
    Voll nervöser Ungeduld wandte er sich vom Fenster ab. Die abgetragene schwarze Hose spannte sich um seine dicken, stämmigen Beine. Er würde froh sein, wenn er etwas abnehmen konnte. Es würde zwar bedeuten, daß diese schreckliche Hungerei wieder anfinge, aber er könnte es schaffen. Er hatte es schon früher geschafft, wenn es notwendig gewesen war. Unruhig strich er sich mit der Hand über den Schädel, der ein wenig juckte. Er würde froh sein, wenn er das Haar wieder natürlich wachsen lassen konnte. An den Seiten war es immer sehr dicht gewesen. Wahrscheinlich war es jetzt fast grau.
    Er strich mit einer Hand langsam am Hosenbein entlang, dann stapfte er unruhig in der Wohnung hin und her und blieb schließlich vor dem Teleskop im Wohnzimmer stehen. Es war ein besonders starkes Teleskop – ein Gerät, das man in dieser Art im allgemeinen nicht kaufen konnte. Sogar viele Polizeidienststellen hatten so eines noch nicht. Aber irgendwie gab es immer eine Möglichkeit, an die Dinge zu kommen, die man brauchte. Er beugte sich nach vorn und linste hinein, ein Auge zugekniffen.
    Es war ein dunkler Tag, und in der Küche brannte Licht. So war es leicht, Nancy deutlich zu erkennen. Sie stand hinter dem Küchenfenster, dem Fenster über dem Spülbecken. Vielleicht war sie gerade dabei, etwas fürs Abendessen vorzubereiten, um es anschließend in den Ofen zu stellen. Aber sie hatte eine warme Jacke an, wahrscheinlich wollte sie ausgehen. Sie stand ganz ruhig da und blickte einfach nur zum Wasser hinüber.
    Woran dachte sie gerade? An wen dachte sie? Die Kinder –
    Peter… Lisa…? Er hätte es zu gern gewußt.
    Er spürte, wie sein Mund trocken wurde. Nervös fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. Sie sah heute sehr jung aus. Ihr Haar war zurückgekämmt. Sie färbte es dunkelbraun. Wenn sie es in seiner natürlichen rotgoldenen Tönung behalten hätte, wäre sie bestimmt von jemandem erkannt worden. Morgen würde sie zweiunddreißig. Man sah ihr das Alter immer noch nicht an. Sie wirkte verführerisch jung, zart, frisch und weich.
    Er schluckte nervös. Er spürte eine fiebrige Trockenheit in seinem Mund, während seine Hände und Achselhöhlen feucht und heiß waren. Er würgte und schluckte noch einmal, und der Laut ging in ein tiefes Glucksen über. Sein ganzer Körper erbebte vor Vergnügen und ließ das Teleskop erzittern. Nancys Bild verschwamm, aber er hatte keine Lust, die Linse scharf einzustellen. Er hatte kein Interesse mehr daran, sie heute noch länger zu beobachten.
    Morgen! Er konnte sich schon genau vorstellen, welchen Gesichtsausdruck sie morgen um diese Zeit haben würde. Vor der ganzen Welt entlarvt als das, was sie war; wie betäubt und starr vor Schmerz und Furcht, wenn sie versuchte, auf die Frage zu antworten… auf die gleiche Frage, die ihr die Polizei vor sieben Jahren immer und immer wieder entgegengeschleudert hatte.
    ›Kommen Sie schon, Nancy‹, würde die Polizei wieder sagen. ›Machen Sie reinen Tisch. Sagen Sie die Wahrheit. Sie müßten doch eigentlich wissen, daß Sie damit nicht davonkommen. Sagen Sie es uns, Nancy – wo sind die Kinder?‹

    l

17. November
    Ray kam die Treppe herunter und zog den Knoten seiner Krawatte fest. Nancy saß am Tisch, Missy, noch schlaftrunken, auf ihrem Schoß. Michael aß in seiner bedächtigen, nachdenklichen Art sein Frühstück.
    Ray zauste Mikes Haare und beugte sich nach vorn, um Missy einen Kuß zu geben. Nancy lächelte zu ihm hinauf. Sie war so verdammt hübsch. Sie hatte feine Fältchen um ihre blauen Augen, aber noch immer würde sie keiner für zweiunddreißig halten. Sie war nur ein paar Jahre jünger als Ray, doch er hatte immer das Gefühl, er wäre unendlich viel älter als sie. Vielleicht war es diese schreckliche Empfindlichkeit. An den Wurzeln ihres dunklen Haares bemerkte er Spuren von Rot. Ein dutzendmal hatte er sie im
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