Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Autoren: Owen Matthews
Vom Netzwerk:
der Partei.

2
    »Nicht Männer, sondern Giganten!«
    Jungens, lasst uns den Plan erfüllen!
    Wahlspruch, den Boris Bibikow mit Kreide
an die Wand der Fabriktoilette schrieb
    Es gibt heute nur noch zwei Fotos von Boris Bibikow. Eines ist ein zwangloses Gruppenfoto, das irgendwann um 1932 im Charkower Traktorenwerk aufgenommen wurde. Er sitzt auf dem Boden, vor zwei Dutzend jugendlich aussehenden, strahlenden Arbeitern. Seinen Arm hat er um die Schultern eines jungen Mannes mit Bürstenhaarschnitt gelegt. Bibikow trägt ein zerknittertes, am Kragen offenes Hemd, und sein Schädel ist rasiert, ganz im proletarischen Stil, den so viele Parteikader in seiner Generation zur Schau trugen. Anders als alle anderen auf dem Foto lächelt er nicht, sondern blickt streng in die Kamera.
    Das andere Foto, in seinem Parteidokument, datiert von Anfang 1936. Bibikow trägt die Uniform eines Parteikaders, zugeknöpft bis zum Hals, und starrt auch hier entschlossen aus dem Bild. Seine heruntergezogenen Mundwinkel verraten mehr als nur einen Anflug Grausamkeit. Er ist durch und durch rücksichtsloser Gefolgsmann der Partei. Die Förmlichkeit seiner Pose und die Tatsache, dass Bibikow in einer Zeit geboren wurde, in der man vor einer Kamera nie ganz ungezwungen war, ergeben eine nahezu perfekte Maske. Auf keinem der beiden Bilder ist er selbst zu sehen, nur der Mann, der er sein wollte.
    Er starb als Mensch ohne Vergangenheit. Wie viele seiner Zeit und seiner Schicht warf Bibikow sein einstiges Selbst ab wie eine schändliche Haut, um als Homo soveticus wiedergeboren zu werden, der neue sowjetische Mensch. Er erfand sich so vollständig neu, dass selbst die Ermittler, die akribisch seinen Weg durch den »Fleischwolf« des NKWD im Sommer und Herbst 1937 aufzeichneten, nicht die geringste Spur seiner einstigen Existenz ausmachen konnten. Es gibt keine Fotos, keine Papiere, keine Dokumente aus seinem Leben vor der Partei.
    Seine Familie stammte von Alexandr Bibikow ab, einem General unter Katharina der Großen, der sich die Gunst der Zarin und einen Adelstitel verdiente, als er 1773 den Bauernaufstand unter dem Anführer Jemeljan Pugatschow unterdrückte. Der Aufstand wurde mit größter Brutalität niedergeschlagen, ganz wie es die Zarin befohlen hatte. Tausende Rebellen wurden aufgehängt oder verprügelt, weil sie es gewagt hatten, sich dem Staat zu widersetzen.
    Boris Bibikow wurde 1903 oder 1904 auf der Krim geboren – in seiner NKWD-Akte steht ersteres Jahr, seine Mutter schrieb letzteres nieder. Sein Vater Lew, ein kleiner Grundbesitzer, starb, als Boris und seine Brüder Jakow und Issaak noch ganz klein waren. Bibikow sprach nie von ihm. Seine Mutter Sofija war Jüdin aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie auf der Krim. Ihr Vater Naum besaß eine Getreidemühle und einen Getreideheber, was wohl den merkwürdigen »Beruf« erklärt, den Bibikow auf seinem Verhaftungsprotokoll angab: »Mühlenarbeiter«. Boris konnte Englisch und kämpfte nicht im Bürgerkrieg. Das ist so ziemlich alles, was wir über seine frühen Jahre wissen. Jakow, der Einzige der Brüder Bibikow, der den Zweiten Weltkrieg überlebte und erst 1979 starb, war ähnlich besessen – er sprach niemals über seine Herkunft oder seinen hingerichteten Bruder. Für die Brüder gab es nur die Zukunft, sie blickten nie zurück.

    Ich glaube nicht, dass mein Großvater ein Held war, aber er lebte in heroischen Zeiten, und solche Zeiten treiben große wie kleine Menschen zu großen Taten. Die Losung der bolschewistischen Revolution war »Frieden, Land und Brot«, und damals muss diese Botschaft in den Ohren ehrgeiziger und idealistischer Männer frisch, kraftvoll und prophetisch geklungen haben. Die Parteikader sollten nichts Geringeres als die Avantgarde der Weltgeschichte sein. Irgendwann, nachdem die Oktoberrevolution das alte Russland hinweggefegt hatte, scheint Bibikow, wie so viele Mitglieder der »einstigen Klassen«, eine Art romantische Offenbarung erlebt zu haben. Oder vielleicht – wer weiß das heute schon – war die Triebfeder Ehrgeiz, Eitelkeit oder auch Gier. Sein Erbe, das kleine Getreidemühlenimperium seines Großvaters mütterlicherseits auf der Krim, wurde 1918 verstaatlicht. Viele seiner nobleren Verwandten in Moskau und Petrograd waren ins Exil geflohen oder als Klassenfeinde verhaftet worden. Die Bolschewiken waren die neuen Herren Russlands, und ein tatkräftiger und intelligenter junger Mann kam nur dann zum Erfolg, wenn er sich so schnell wie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher