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Winter der Zärtlichkeit

Winter der Zärtlichkeit

Titel: Winter der Zärtlichkeit
Autoren: Linda Miller
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Nach dem Telefonat ging Sierra zum Geschirrschrank, um die Teekanne zu holen. In dem Moment kam Liam die Hintertreppe hinuntergeflitzt. „Ich hab doch gesagt, dass es in diesem Haus spukt!“, schrie er, sein kleines Gesicht strahlte.
    Die Teekanne war schwer - definitiv Gusseisen -, aber Sierra war trotzdem vorsichtig, als sie sie auf die Theke stellte. „Wovon in aller Welt sprichst du?“
    „Ich habe gerade ein Kind gesehen“, verkündete Liam. „Oben, in meinem Zimmer!“
    „Das bildest du dir ein.“
    Liam schüttelte seinen Kopf. „Ich habe es gesehen ! “
    Prüfend legte Sierra eine Hand an seine Stirn. „Kein Fieber“, stellte sie besorgt fest.
    „Mom“, protestierte Liam. „Ich bin nicht krank - und Wahnvorstellungen habe ich auch nicht.“
    Wahnvorstellungen. Wie viele Siebenjährige benutzten dieses Wort? Seufzend nahm Sierra Liams eifriges Gesicht in beide Hände. „Hör zu. Es ist in Ordnung, Freunde zu erfinden, aber ..."
    „Er ist nicht erfunden.“
    „Okay.“ Natürlich könnte ein Nachbarskind im Haus sein, so unwahrscheinlich es auch klang, weil die nächsten Nachbarn Meilen entfernt wohnten. „Lass uns nachschauen.“
    Zusammen stiegen sie die Hintertreppe hinauf, und Sierra bekam einen ersten Eindruck vom Obergeschoss. Der Flur war breit, es gab elektrisches Licht, obwohl die Lampen sehr alt aussahen. Doch das meiste Licht fiel durch die großen bogenförmigen Fenster am anderen Ende. Sechs Zimmertüren standen offen, was darauf hindeutete, dass Liam nacheinander jedes einzelne Zimmer besichtigt hatte, nachdem er vorhin aus der Küche verschwunden war.
    Er führte sie in das mittlere Zimmer auf der linken Seite.
    Niemand da.
    Es war ein großer, perfekter Raum für einen Jungen. Zwei Erkerfenster gaben den Blick auf die Stallungen frei. Dort stand Baldy, das außerordentlich hässliche Pferd, tapfer in der Mitte des Geheges und sah aus, als ob es seinen Ausbruch planen würde. Travis stand neben Baldy und strich ihm sanft über den Rücken, während er ihm ein Halfter über den Kopf zog.
    Ein zittriges Gefühl machte sich in Sierras Bauch breit.
    „Mom“, platzte Liam heraus. „Er war hier. Er trug eine kurze Hose und komische Schuhe und Hosenträger.“
    Etwas verärgert drehte Sierra sich zu ihrem Sohn um. Liam stand neben dem Fenster und untersuchte ein antikes Teleskop, das auf einem glänzenden Messingstativ saß. „Ich glaube dir“, sagte sie.
    „Tust du nicht“, widersprach ihr Sohn. „Du gibst einfach nur nach.“
    Sierra setzte sich auf die Seite des Bettes, die zwischen den beiden Fenstern lag. Wie die Schränke, so trug auch das Bett die Narben der Zeit, aber das Holz war robust. Das schlichte Kopfteil zierten verschlungene Ornamente, ein verblasster Quillt sorgte für etwas Farbe. „Gut, vielleicht ein bisschen“, gab sie zu, weil sie Liam sowieso nichts vormachen konnte. Er besaß ein unheimliches Talent dafür, die Dinge zu durchschauen. „Ich weiß nur nicht, was ich denken soll, das ist alles.“
    „Glaubst du nicht an Geister?“
    Ich glaube so ziemlich an gar nichts, dachte Sierra traurig. „Ich glaube an dich“, sagte sie und klopfte neben sich auf die Matratze. „Komm, setz dich mal.“
    Widerstrebend gehorchte er, versteifte sich allerdings, als sie einen Arm um seine Schultern legte. „Wenn du glaubst, dass ich einen Mittagsschlaf mache, irrst du dich. Das meine ich todernst.“
    Bei dem Wort todernst lief ihr ein Schauer über den Rücken. „Alles wird gut, weißt du“, versprach sie ihm sanft.
    „Ich mag den Raum“, gestand Liam, und seine großen hoffnungsvollen Augen versetzten ihrem Herz einen Stich. Bisher hatten sie immer in billigen Wohnungen oder Hotelzimmern gewohnt. Ob Liam sich insgeheim schon immer nach so einem Zuhause gesehnt hatte? Nach einem Ort, wo er hingehörte und wie ein ganz normales Kind leben konnte?
    „Ich auch“, gab Sierra zu. „Es hat eine freundliche Ausstrahlung.“
    „Soll das ein Schrank sein?“, fragte Liam und deutete auf ein riesiges Ungetüm aus Kiefer, das fast die gesamte Wand einnahm.
    Sierra nickte. „Das ist ein Kleiderschrank.“
    „Vielleicht ist das so einer wie in dieser Geschichte. Man gelangt durch seine Rückwand in eine andere Welt. Da könnte ein Löwe drin sein und eine Hexe.“ An seinem Lächeln sah sie, dass diese Möglichkeit ihn eher faszinierte als verängstigte.
    Liebevoll zerzauste sie sein Haar. „Vielleicht“, stimmte sie zu.
    Als Nächstes sah Liam zu dem Teleskop.
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