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Winter

Winter

Titel: Winter
Autoren: John Marsden
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mich, ob ich so stark wäre wie gerade in diesem Moment, wenn sie noch lebte. Die Stärke ihrer Persönlichkeit war nicht zu übersehen und ich hatte bei meinen Schulfreundinnen immer wieder beobachtet, wie übermächtig solche Mütter sein können. Ich kannte Familien mit starken Eltern und völlig passiven Kindern. Als gäbe es in diesen Familien nur ein bestimmtes Maß an Raum und das meiste davon beanspruchten die Eltern.
Vielleicht hatte mir meine Mutter durch ihren Tod den Raum hinterlassen, den ich benötigte um stark zu werden.
Dabei war ich gar nicht sicher, ob das, was ich gerade tat, ein Zeichen von Stärke war oder einfach nur erbärmlich. Was konnten sie dagegen tun? Mich rausschmeißen? Kräftiger als Mrs Stone war ich allemal und das wusste sie auch. Und Mrs Harrison klang auch nicht gerade so, als wäre sie in der Verfassung, mich grob anzufassen. Würden sie Hilfe holen? Die Polizei womöglich? Nein, das würde sie nicht tun. Mrs Harrison würde keine Schande über den Namen der Familie bringen oder sich selbst einer so peinlichen Lage aussetzen. Angenommen, das sprach sich im Distrikt herum – »hat sich geweigert, ihre Nichte zu sehen… die Polizei gerufen… sie aus dem Haus werfen lassen… keine Zeit für das Kind… nach zwölf Jahren!« Selbst wenn Mrs Harrison das Leben einer Einsiedlerin führte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie ihren Ruf dermaßen aufs Spiel setzen würde.
Vielleicht wartete sie auch nur ab, bis mich der Hunger vertrieb. Das Ganze konnte ein ziemlicher Witz werden. Ernsthaft, was würde geschehen, wenn ich nach drei Tagen immer noch hier auf der Türschwelle kampierte? Wie sollte ich mir was zu essen und zu trinken besorgen? Und vor allem, wie würde ich aufs Klo gehen?
Kaum hatte ich mir diese Frage gestellt, als meine Blase ein dringendes Bedürfnis anmeldete. Es ist immer dasselbe und so lästig. Ich versuchte an etwas anderes zu denken. Das Wort »kampieren« hatte mich an etwas erinnert. Genau.
Die Zeltbotschaft der Aborigines in Canberra. An der war ich oft genug vorbeigekommen. Vielleicht sollte ich es ihnen einfach nachmachen. Wenn ich an den Punkt gelangte, an dem ich dringend etwas zu essen und Wasser benötigte, würde ich heimgehen, ein paar Vorräte einpacken, ein Zelt mitnehmen und auf der Wiese vor Großtante Ritas Haus kampieren. Das würde ihr etwas zu denken aufgeben. Das Kloproblem war damit zwar nicht gelöst, aber es war eine nette Vorstellung.
Als nach zwanzig Minuten von Mrs Stone immer noch nichts zu sehen war, huschte ich nach draußen in den Vorgarten und pinkelte hinter eine dichte Hecke. Dann eilte ich zurück und hoffte, dass sie meine Abwesenheit nicht bemerkt hatte. Ich befürchtete, sie könnte in dem Moment, in dem ich ihr kurz den Rücken zukehrte, nach unten gerannt kommen und die Türe ins Schloss werfen.
Nichts dergleichen.
Drei Stunden später war die Lage mehr oder weniger unverändert. Zwei Mal hatte ich Mrs Stone gesehen, sie kam die Treppe herunter, blieb auf halbem Weg stehen, warf mir rasch einen Blick zu und kehrte wieder um – wahrscheinlich um Bericht zu erstatten.
Ich konnte mir die Unterhaltung gut vorstellen.
»Sie ist immer noch da.«
»Gut, dann hetzen Sie die Hunde auf sie.«
Ein paar Mal vernahm ich Schritte über mir und einmal dachte ich Stimmen zu hören, aber bei einem so großen Haus ist es schwierig, die vielen Geräusche zu unterscheiden.
Auf eine seltsame Weise genoss ich das Ganze sogar. Ich glaube, ich hatte mich noch nie in meinem Leben so im Recht gefühlt. Ich war wirklich überzeugt, dass meine Anwesenheit gerechtfertigt war, dass meine Großtante mich empfangen musste. Sie hatte kein Recht, mich wegzuschicken.
Mittlerweile beunruhigte mich vor allem der Gedanke, Jess könnte nach Hause kommen und sich allmählich Sorgen machen. Es würde bald dunkel sein, und obwohl Jess und ich uns nicht immer sagten, wo wir hinwollten, könnte sie nervös werden, zumal sie ja wusste, dass ich heute Morgen vorsingen sollte.
Ich vertrieb mir die Zeit, indem ich mir ausmalte, wie die Dinge laufen würden, wenn ich Großtante Rita schließlich doch begegnete.
»Ein schönes Haus«, würde ich sagen. »Und erst die Rosen! Zauberhaft, dass sie um diese Jahreszeit noch blühen.«
»Nun, Liebes, darum kümmern sich selbstverständlich die drei Gärtner. Und ihre Assistenten. Und die Lehrlinge. Es wird ja immer schwieriger, gutes Personal zu finden.«
»Oh, ich weiß. Schrecklich, nicht wahr?«
Oder sie käme die
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