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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Autoren: Hans-Joachim Noack
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«wäre ich kaum der geworden, der ich bin».
    Auf den frühesten Bildern, die er von sich und den «tiefen häuslichen Wurzeln» in seinem Gedächtnis gespeichert hat, ist die Welt noch weitgehend in Ordnung. Was immer die Demokratie seit der Abdankung des Kaisers in schwere Turbulenzen stürzt, wird ihm vom «Papa» im Wesentlichen als vorübergehende Misere erklärt, wobei der Optimismus, den er dabei verströmt, zunächst durchaus berechtigt erscheint. Schließlich stellen die Sozialdemokraten in der ersten «Weimarer Koalition» mit dem ehemaligen Sattler Friedrich Ebert als Präsidenten und dem einstigen Buchdrucker Philipp Scheidemann, der dem Kabinett vorsteht, die beiden mächtigsten Männer der neuen Republik.
    Von 1922 an beginnt der an den Lippen der «Altvordern» hängende Enkel dann seine eigenen Eindrücke zu sammeln, die dem damals achtjährigen Kind eine Vorstellung von der Kraft der SPD vermitteln. Im April stirbt der überaus populäre Lokalmatador, Gewerkschafter und Reichstagsabgeordnete Theodor («Tetje») Schwartz, ein in die Politik gewechselter Seemann, der in einem gewaltigen Leichenzug zum Friedhof begleitet wird. Die nach Tausenden zählende Menschenmenge, die sich durch die Straßen bewegt, erzeugt in dem außerordentlich begeisterungsfähigen Herbert ein «erhebendes Gefühl».
    Welche Chancen die Partei ihren Gefolgsleuten bietet, beweist ihm überzeugend der Aufstieg Ludwig Frahms. Der erfreut sich, seit es die Republik gibt, nicht nur eines geregelten Achtstundentags, sondern auch seiner neugewonnenen Rechte als Staatsbürger und darf als Aktivist sogar selber ein bisschen mitmischen: Die Genossen wählen den allzeit verlässlichen LKW-Fahrer im Stadtbezirk Holstentor-Süd zum Vertrauensmann; an der Verwirklichung einer dauerhaft gerechten Gesellschaftsordnung hat er allein schon aus diesem Grund kaum einen Zweifel – und seine Zuversicht überträgt sich auf den erwartungsvollen Junior.
    Im August 1923 jedoch, so entsinnt sich der betagte Willy Brandt, ist es mit dem «vom Großvater übernommenen Unschuldsblick» auf die im Lande herrschenden Verhältnisse schlagartig vorbei. In Lübeck sieht der knapp Zehnjährige, wie Polizisten die Teilnehmer einer Demonstration Erwerbsloser und die Mitglieder des sozialdemokratischen Ordnungsdienstes mit Knüppeln traktieren – und der politisch verantwortliche Senat verliert kein Wort des Bedauerns über diesen Skandal. Er habe den Schock, schreibt Brandt in seiner Autobiographie, «nie vergessen können … auch nicht vergessen wollen».
    Auf die bis dahin leuchtenden Traumgebilde einer unbesiegbaren Arbeiterbewegung fallen nun die ersten dunklen Schatten. Böse Ahnungen steigen in ihm auf, dass sich nicht alles zwangsläufig so weiterentwickeln könnte, wie er es am Stammtisch des Großvaters zu hören bekommen hat – und seine Befürchtungen werden bald durch neue alarmierende Fakten bestätigt: Wohl darf sich seine Heimatstadt nach wie vor als ein rotes Zentrum empfinden, aber im angrenzenden Hinterland, den Provinzen Holstein und Mecklenburg, verbreiten bereits Anfang der zwanziger Jahre die radikal rassistischen «Völkischen» Angst und Schrecken.
    Mit welcher Dreistigkeit zudem die sogenannten alten Mächte nach ihrem Weltkriegsdesaster die Demokratie manipulieren, um verlorenes Terrain zurückzugewinnen, beobachtet er dann auch immer öfter in seiner unmittelbaren Umgebung. Nach dem Tod Friedrich Eberts, dem 1925 der konservative Feldmarschall Paul von Hindenburg in das Amt des Präsidenten folgt, fällt ihm da die fatale Rechtslastigkeit der meisten Staatsorgane auf. Wer etwa spöttisch über die Farben der Republik herzieht – «Schwarz-Rot-Mostrich» –, hat keinerlei Konsequenzen zu gewärtigen, wohingegen Gesetzesverletzungen von linker Seite mit zum Teil drakonischen Strafen belegt werden.
    Umso mehr ist Herbert Frahm durch die schwer erklärliche Selbstfesselung der SPD verunsichert. Bei der Arbeit für den «Volksboten» kommt ihm immer deutlicher zu Bewusstsein, dass die Partei offenbar die Verantwortung scheut: Seitdem die Sozialdemokraten die Reichstagswahl von 1920 verloren haben, begnügen sie sich auf nationaler Ebene acht Jahre lang mit der Rolle des Juniorpartners oder verdrücken sich gleich schicksalsergeben in die Opposition – und nicht minder bänglich verhalten sich auch die Genossen im heimatlichen Lübeck. Dort setzen sie im Grunde nur fort, was ihnen schon an jenem 5. November 1918 vernünftig
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