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Wildes Herz

Wildes Herz

Titel: Wildes Herz
Autoren: Leonie Britt Harper
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oder in dem hölzernen Schlafsarg des Armenhauses erschien es ihr immer noch wie ein unglaubliches Geschenk, in einem richtigen Bett schlafen zu dürfen. Auch die Kammer, die ein echtes Glasfenster aufwies und die sie ganz allein bewohnte, erfüllte sie jedes Mal von Neuem mit Staunen.
    Doch es war nicht die ungewohnte Bequemlichkeit, die Éanna um den Schlaf brachte. Sondern ein neuer, ein elektrisierender Gedanke, der sie plötzlich durchzuckte.
    Es war etwas, das Brendan ihr zu Beginn ihrer Bekanntschaft erzählt hatte, in den Wäldern von Mountrath. Nämlich dass sein Vater, Jahre bevor er seine Mutter geheiratet hatte, für kurze Zeit in Dublin gewesen war und dass er ihm die St.-Patricks-Kathedrale in den glühendsten Farben beschrieben hatte. In jener Nacht hatte Brendan zu ihr gesagt: »Damals ist mein Vater jeden Tag dort gewesen und hat Kerzen für die Verstorbenen angezündet.«
    Und in diesem Moment wusste sie, wo und wie sie Brendan finden konnte, sofern er tatsächlich nach Dublin gekommen war.
    Éanna konnte es nicht erwarten, dass der neue Tag anbrach und sie sich auf den Weg zur Kathedrale machen konnte. Sie war wild entschlossen, notfalls den ganzen Tag bis in die Nacht auf den Stufen des Portals auszuharren.
    Der Januarmorgen war eisig kalt, und nicht eine Wolke zeigte sich am zögerlich heller werdenden Himmel, als Éanna mit wehendem Umhang durch die Straßen eilte. Als sie den Vorplatz des majestätischen Gotteshauses erreichte, traf sie auf viele andere Gläubige, die aus den umliegenden Vierteln zusammenströmten, um die Frühmesse zu besuchen. Sie war jedoch die Einzige, die oben neben dem mächtigen Eingangsportal in der beißenden Kälte stehen blieb und mit jagendem Herzen nach Brendan Ausschau hielt.
    Wann würde er kommen? Würde er überhaupt kommen? War er tatsächlich in der Stadt? Was, wenn er irgendwo weiter flussabwärts bei den Werften und Überseekais Arbeit und Unterkunft gefunden hatte?
    Éanna trat von einem Bein auf das andere, blies mit dampfendem Atem in ihre Hände, um sie etwas zu wärmen, und ließ dabei ihren Blick unablässig von einem zum anderen Kirchgänger schweifen, der sich auf dem Vorplatz der Kathedrale näherte. Es war schwer, im fahlen Dämmerlicht des jungen Tages und unter den tief in die Stirn gezogenen Mützen und dicken Schals Gesichtszüge auszumachen.
    Plötzlich fiel ihr Blick auf eine Gestalt, die aus einer Seitenstraße zu ihrer Linken auftauchte. Irgendetwas an diesem Mann, der mit der Rechten seinen Umhang vor der Brust zuhielt und mit gesenktem Kopf auf die Kathedrale zuhastete, kam ihr bekannt vor. Und instinktiv wusste sie, dass es Brendan war.
    »Brendan!« Sie schrie seinen Namen, so laut sie konnte. Die missbilligenden Blicke, die sie von allen Seiten trafen, nahm sie überhaupt nicht wahr. Und wenn sie ihr bewusst geworden wären, hätte es sie nicht gekümmert. Mit Jubel in der Brust sprang sie die Stufen hinunter und auf ihn zu. »Brendan! . . . Brendan!«
    Der Mann blieb stehen. Doch er rührte sich nicht von der Stelle und gab auf ihre Zurufe keine Antwort.
    »Brendan! Warte!«, rief sie ein weiteres Mal. Schon war sie bei ihm angelangt und packte ihn an der Schulter. Er drehte sich zu ihr um, aber als Éanna in das Gesicht des Mannes mit den krausen roten Locken blickte, hätte sie die Enttäuschung fast von den Füßen gerissen.
    Er sah ihm ähnlich – gewiss –, doch er war viel älter als Brendan.
    »Warum so stürmisch, meine Schöne? Du brauchst keine Sorge zu haben, auf dich würde ich jederzeit warten«, sagte der Mann lachend, und es hätte nicht viel gefehlt, dass Éanna ihn vor Wut und Ohnmacht geohrfeigt hätte. Doch im letzten Moment hielt sie sich zurück. Er konnte ja nichts dafür, dass er nicht der war, für den sie ihn gehalten hatte.
    Stumm vor Verzweiflung wandte sie sich ab und nahm ihren Posten am Portal wieder auf.
    Doch Brendan kam nicht.
    Er kam nicht an diesem Tag, und er kam auch nicht am nächsten Tag.
    Der Sonntag verstrich, und am Nachmittag besuchte Éanna Patrick O’Brien in seinem geheimen Zimmer in der O’Connell Street. Eine Stunde lang erzählte sie von ihrer Heimat in dem kleinen Dorf in Galway. So gut es ging, beantwortete sie seine begierigen Fragen, aber sie war mit dem Herzen nicht bei der Sache. Zu sehr brannte sie darauf, wieder zum Kirchplatz zu kommen. Was, wenn es Brendan ausgerechnet jetzt in die Kathedrale zog? Vielleicht konnte er nur einmal in der Woche eine Kerze anzünden, weil
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