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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd
Autoren: Haruki Murakami
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ließ. »Dein Leben ist gar nicht langweilig, du sehnst dich nur nach einem langweiligen Leben. Liege ich falsch?«
    »Vielleicht hast du Recht. Vielleicht ist mein Leben gar nicht langweilig, sondern ich sehne mich nur danach. Aber das ist letzten Endes das Gleiche. Wie auch immer, ich habe mich jedenfalls schon so eingerichtet. Alle versuchen vor der Langeweile davonzulaufen, aber ich versuche hineinzukommen, genau so, als ob ich mich in der Rushhour exakt gegen den Strom bewegte. Deshalb beschwere ich mich auch nicht, dass mein Leben langweilig geworden ist. Immerhin so langweilig, dass meine Frau davongelaufen ist.«
    »War das der Grund für eure Trennung?«
    »Wie ich vorhin schon sagte, das ist eine längere Geschichte. Aber um mit Nietzsche zu sprechen: ›Gegen die Langeweile kämpfen Götter selbst vergebens‹.«
    Wir nahmen uns Zeit zum Essen. Sie ließ sich noch etwas Sauce nachreichen, ich aß eine Extraportion Brot. Bis wir das Hauptgericht aufgegessen hatten, war jeder von uns in seine eigenen Gedanken vertieft. Als das Geschirr abgeräumt, das Heidelbeersorbet gegessen und der Espresso serviert worden war, zündete ich mir eine Zigarette an. Der Rauch schwebte nur ganz kurz im Raum, um dann geräuschlos von der Lüftung eingesogen zu werden. An mehreren Tischen kamen Gäste an. Aus den Lautsprechern erklang ein Mozart-Konzert.
    »Ich möchte noch etwas mehr über deine Ohren erfahren«, sagte ich.
    »Du möchtest fragen, ob meine Ohren eine besondere Kraft besitzen oder nicht, nicht wahr?«
    Ich nickte.
    »Das sollst du selbst herausfinden«, sagte sie. »Selbst wenn ich dir etwas darüber erzählen würde, könnte ich das nur in sehr begrenztem Umfang, und ich kann mir nicht vorstellen, dass dich das befriedigen würde.«
    Ich nickte noch einmal.
    »Für dich lege ich sogar meine Ohren frei«, sagte sie, als sie ihren Espresso getrunken hatte. »Aber ich kann dir nicht sagen, ob das wirklich gut für dich ist. Du wirst es vielleicht bereuen.«
    »Warum?«
    »Weil deine Langeweile vielleicht nicht so stabil ist, wie du denkst.«
    »In dem Fall sei’s drum«, sagte ich.
    Sie streckte ihre Hand über den Tisch und legte sie auf meine. »Und noch eins: Verlass mich für eine bestimmte Zeit bitte nicht – sagen wir, von jetzt an ein paar Monate, okay?«
    »Okay.«
    Sie holte ein schwarzes Haarband aus ihrer Handtasche, steckte es in den Mund, um mit beiden Händen ihre Haare hinten zusammenzuhalten, einmal ganz zu drehen und dann rasch festzubinden.
    »Na?«
    Ich hielt den Atem an und starrte sie an. Mein Mund wurde ganz trocken; ich brachte keinen Ton heraus. Mir schien, als habe die weiß verputzte Wand einen Augenblick lang Wellen geschlagen. Das Stimmengewirr im Restaurant und das Klappern der Bestecke verwandelten sich in flüchtige Wolken und wurden wieder real. Ich hörte Wellenbrausen und nahm den Geruch eines unvergesslichen Abends wahr. Das alles war jedoch nur ein Bruchteil von dem, was ich in den paar Sekundenhundertsteln fühlte.
    »Wahnsinn!«, brachte ich endlich heraus. »Ein vollkommen anderer Mensch.«

2. DIE OHRENOFFENBARUNG
    »Ja, das bin ich auch«, sagte sie.
    Sie war fast unwirklich schön. Diese Art von Schönheit hatte ich bisher weder je mit eigenen Augen gesehen, noch hatte ich sie mir je vorgestellt. Alles war weit wie das Universum und dicht wie ein ewiger Gletscher. Alles war überspitzt bis an die Grenze des Vermessenen und doch maßvoll. Es überstieg alle mir bekannten Begriffe. Sie und ihre Ohren wurden eins und glitten wie ein uralter Lichtstrahl in die Tiefe der Zeit hinab.
    »Du bist der helle Wahnsinn!«, sagte ich, als ich endlich wieder zu Atem gekommen war.
    »Ja, ich weiß«, sagte sie. »Das ist immer so, wenn ich meine Ohren freimache.«
    Einige Gäste drehten sich um und starrten zu uns herüber. Der Kellner, der gekommen war, um uns Kaffee nachzuschenken, war kaum dazu in der Lage. Niemand sagte ein Wort. Nur die Spulen des Tonbands drehten sich langsam weiter.
    Sie nahm eine Mentholzigarette aus ihrer Tasche und steckte sie zwischen die Lippen. Ich beeilte mich, sie ihr mit meinem Feuerzeug anzuzünden.
    »Ich möchte mit dir schlafen«, sagte sie.
    Und wir schliefen miteinander.

3. DIE OHRENOFFENBARUNG (FORTSETZUNG)
    Dabei war ihre absolute Hochphase noch nicht einmal gekommen. In den nächsten zwei bis drei Tagen zeigte sie ihre Ohren nur zeitweise. Jedes Mal verbarg sie diese strahlenden, wundervollen Skulpturen wieder hinter ihrem Haar und
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