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Wielstadt-Trilogie Bd. 1 - Drachenklingen

Wielstadt-Trilogie Bd. 1 - Drachenklingen

Titel: Wielstadt-Trilogie Bd. 1 - Drachenklingen
Autoren: Pierre Pevel
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in der anderen Hand. Mit einem beherzten Tritt öffnete er die Tür zu einem leeren, staubigen Raum. Nur durch eine einzige schmale Schießscharte fiel schwach das nächtliche Licht herein. Von der Schwelle aus suchte er das Zimmer mit angestrengt zusammengekniffenen Augen ab. Hinter ihm auf der Treppe wartete eine Gruppe Söldner.
    »Keiner da!«, rief er. »Sucht weiter. Durchforstet den Burgfried
von oben bis unten. Laincourt kann nicht weit gekommen sein.«
    Dann zog er die Tür zu.
    Es wurde wieder still auf der Treppe, und Agnès wartete noch einen Moment, bevor sie sich geschmeidig von den Deckenbalken hinunterließ, an denen sie sich zuvor hochgezogen hatte, um nicht entdeckt zu werden. Auf Zehenspitzen begab sie sich zur Tür und vergewisserte sich lauschend, dass die Männer weggegangen waren. Dann trat sie an die Schießscharte. Sie hatte keine Ahnung, wer dieser Laincourt war, doch das Wissen, dass Savelda gar nicht auf der Suche nach ihr war, machte ihr wieder ein wenig Mut. Offenbar war ihr Ausbruch noch nicht entdeckt worden. Aber die Kerle, die nun den Burgfried nach jemand anderem durchkämmten, konnten ihr auch ebenso gefährlich werden.
     
    Im hinteren Teil der Festungsruine, etwa fünfzig Meter vom Burgfried entfernt, nahm das Ritual seinen Lauf.
    Es hatte bei Einbruch der mondklaren Nacht begonnen und wurde von Gagnière, gehüllt in ein zeremonielles Gewand, vollzogen. Er psalmodierte auf Draconisch, der alten, geheimnisvollen Mundart der Drachenahnen. Die meisten der Zuhörer waren dieser Sprache selbst nicht mächtig. Trotzdem konnte man sich ihrer Macht auch jenseits eines greifbaren Sinns kaum entziehen. Die Kandidaten für die Initiation schienen wie gebannt und lauschten den Worten zutiefst ergriffen.
    Die Malicorne, die ihr Gesicht noch immer hinter einer Maske verbarg, trat würdevoll hinter dem steinernen Altar ins warme Licht aus Fackelschein und Flammen. Tiefe Stille machte sich breit, als Gagnière mit gesenktem Kopf an ihre
Seite trat und mit vor dem Bauch gefalteten Händen eine andächtige Pose einnahm. Dann begann die Vicomtesse mit der Litanei der Drachenahnen, die sie anrief und deren Beistand sie erbat. Es dauerte lange, bis alle Ahnen, ihre Herkunft und Ehrentitel aufgezählt waren. Der Name des jeweiligen Ahnen wurde vor den Lobreden zunächst von Gagnière als dem Ersten Eingeweihten und schließlich noch einmal im Chor von allen Anwesenden wiederholt.
    Schließlich öffnete die Vicomtesse eine Schatulle, die auf dem Altar bereitstand, entnahm ihr die Seelenkugel und schwenkte sie mit ausgestreckten Armen sanft hin und her. Auf Draconisch rief sie Sassh’Krecht an, den Drachenahn, dessen schwarzes Wesen in der Kugel verborgen war. Sie zählte all seine Vorfahren und Nachkommen auf, alle Ämter und Würden, die ihm verliehen worden waren, und jede seiner legendären, ruhmreichen Taten. Während sie sprach, war die Atmosphäre erfüllt von einer unheimlichen Präsenz, die die Anwesenden in ihren Bann zog und mitriss. Die geheimnisvolle Kraft ging aus längst vergangener Zeit hervor und sollte allen Naturgesetzen zum Trotz hier nun wieder auferstehen.
    Einer nach dem anderen, Gagnière vorweg, schritt an den Altar und kniete vor der Vicomtesse. Dann küsste ein jeder die Seelenkugel, die die Malicorne ihnen hinhielt. Mit diesem Kuss bezeugten sie ihre absolute Ergebenheit. Sie waren bereit, einen Teil von sich hinzugeben, und warteten nun darauf, dass sich Sassh’Krecht offenbarte und ihre Seele erfüllte.
    Wie in Trance stieß die Vicomtesse de Malicorne eine Beschwörung aus und streckte die Kugel dem Mond entgegen. Wind erhob sich, und die Wolken, die den Himmel über
dem Burgschloss verhangen hatten, lösten sich wirbelnd auf, als zöge sie eine mächtige Fliehkraft in ihren Bann. Dumpfes Gemurmel erfüllte die Nacht. Aus der langsam verblassenden Seelenkugel drangen graue und schwarze Schwaden. Sie zogen lange Bahnen, und nach und nach nahmen sie die Form eines geisterhaften Drachen an. Eines Drachen, der sich streckte, die Flügel ausbreitete und sich zu beachtlicher Grö ße aufrichtete. Viele Jahrhunderte lang hatte Sassh’Krecht den Tod überdauert, gefangen in der Seelenkugel, in der sich all seine Macht konzentrierte. Nun hatte er die Freiheit wiedererlangt. Nur sein Schweif steckte noch in der Kugel, die die ekstatisch bebende Vicomtesse weiterhin festhielt. Jetzt musste er nur mehr von den Seelen Besitz ergreifen, die seine Anhänger ihm bereitwillig
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