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Wie Inseln im Strom

Wie Inseln im Strom

Titel: Wie Inseln im Strom
Autoren: Kathleen O`Brien
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herkommst.”
    Gegen Mittag betrat Gwen leise das Haus. Sie war hundemüde, denn sie hatte die Nacht auf der Couch in Teddy Kilgores Wohnzimmer verbracht – was bedeutete, dass sie so gut wie gar nicht geschlafen hatte. Das lag auch an ihrem Gewissen, das sie nicht zur Ruhe hatte kommen lassen. Und dann hatte Mrs. Kilgore, eine notorische Frühaufsteherin, auch noch im Morgengrauen begonnen, in der Küche mit Geschirr zu klappern.
    Also hatte sie sich nach Hause geschleppt, obwohl sie nicht die geringste Lust hatte, der Stiefhexe zu begegnen. Vielleicht würde sie sich besser fühlen, wenn sie in ihrem eigenen Bett lag. Vielleicht würde sie sogar das ungute Gefühl abschütteln können, dass sie etwas wirklich Schlimmes getan hatte.
    Aber nein. Kaum hatte sie die Haustür hinter sich geschlossen und sich umgedreht, war das Erste, was sie sah, Lacy. Verblüfft runzelte Gwen die Stirn. Was war los? Lacy stand auf der Treppe, auf halbem Weg nach oben, und hielt sich mit beiden Händen am Geländer fest, als hätte sie einen Herzinfarkt oder so etwas.
    Gwen ging hinüber und sah hoch. Lacys Gesicht war halb hinter dem offenen braunen Haar verborgen, aber was davon zu erkennen war, konnte einem Angst machen. Es war aschfahl, angespannt … vollkommen verzweifelt.
    Gwens Gewissen regte sich so heftig wie noch nie zuvor. Adam musste hier gewesen sein. Und es musste eine ziemlich unschöne Szene gegeben haben. Und wenn schon. Das war doch genau das, was sie gewollt hatte, oder? Sie sollte ihren Triumph auskosten, aber Lacys schönes Gesicht so schmerzverzerrt zu sehen, ging ihr irgendwie ans Herz.
    Ihre Stiefmutter war immer vollkommen beherrscht und makellos gewesen. Gwen hatte nicht gedacht, dass Lacy überhaupt in der Lage war, richtig zu leiden. Aber das hier war echt, kein Zweifel, so echt, dass sie es nicht mit ansehen konnte.
    “Lacy?” Sie legte die Hand auf das Geländer. “Bist du in Ordnung?”
    Lacy hob den Kopf ein wenig. “Ja”, sagte sie mit gedämpfter Stimme. “Ich gehe nur nach oben.”
    Gwen umklammerte das glatte Holz. Ihr Hals war unerwartet trocken. “Ist Adam hier gewesen?”
    Lacy nickte. Aber ganz langsam, als wäre die Bewegung schmerzhaft.
    Oh Gott. Gwen kam sich plötzlich vor wie eine Verbrecherin. So hatte sie sich diesen Augenblick in ihren Racheträumen nicht vorgestellt.
    “Lacy, ich …”
    Aber was sollte sie sagen? Dass es ihr leidtat? Sie sagte nie, dass ihr etwas leidtat – egal, was es war. Außerdem würde es sich ziemlich dumm anhören. Dass es ihr leidtat, änderte nicht das Geringste. Der Schaden war angerichtet.
    Und es war nicht nur ein Schaden. Es war ein absolutes Desaster.
    “Es ist schon gut, Gwen”, sagte Lacy. Sie sah auf und versuchte zu lächeln, aber es wirkte so gequält, dass Gwen zusammenzuckte.
    “Ich weiß, dass du Adam das Testament gebracht hast. Und ich glaube, ich weiß sogar, warum du das getan hast.” Sie atmete schwer, und ihre Worte klangen fast ausdruckslos. “Ich weiß, dass du mich hasst. Wie solltest du auch nicht? Ich habe dich im Stich gelassen. Ich bin hergekommen und habe die Sicherheit und das Ansehen genommen, das dein Vater mir bieten konnte, aber nicht die Verantwortung. Ich hätte darauf vorbereitet sein müssen, dir eine Mutter zu sein, doch das war ich nicht.”
    “He, ich habe dich ziemlich deutlich merken lassen, dass ich keine Mutter wollte”, wandte Gwen ein.
    “Ich weiß. Aber ich hätte mich dadurch nicht abschrecken lassen dürfen. Jeder Mensch will geliebt werden. Ich war zu sehr in meine eigenen Probleme vertieft, um das zu sehen. Und dann, als ich die Fehlgeburt hatte …” Ihre Stimme versagte. “Als ich das Baby verlor …”
    Das bisschen Kraft, das sie mühsam aufgebracht hatte, schien zu versiegen, als sie dieses eine Wort aussprach. Sie gab einen erstickten Laut von sich und ließ den Kopf wieder sinken.
    Ohne es zu merken, war Gwen um das Geländer herumgegangen und stand jetzt auf der untersten Treppenstufe.
    “Du hast das Baby verloren?” Sie ging zwei Stufen nach oben, bis nur noch drei zwischen Lacy und ihr lagen. “Du hattest eine Fehlgeburt?” Sie starrte Lacy an und versuchte, sich an den Tag zu erinnern, an dem sie ins Krankenhaus gefahren war, aber sie konnte es nicht. Alles war verschwommen.
    “Oh mein Gott”, entfuhr es ihr. “Ich habe immer geglaubt … Lacy, warum hast du mir nie erzählt, wie es wirklich war?”
    Lacy schüttelte den Kopf. “Ich habe es niemandem erzählt. Dein Vater
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