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Wie halte ich das nur alles aus?: Fragen Sie Frau Sibylle (German Edition)

Wie halte ich das nur alles aus?: Fragen Sie Frau Sibylle (German Edition)

Titel: Wie halte ich das nur alles aus?: Fragen Sie Frau Sibylle (German Edition)
Autoren: Sibylle Berg
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bewegen. Aufstehen, in die Küche gehen, den Kühlschrank öffnen. Keinen Hunger auf nichts mehr. Zurück. Der Fernseher läuft – wer hat eigentlich noch Fernseher –, und draußen schneit es jetzt wirklich nicht, und kein Auto, und nichts. Nichts wird sich jemals ändern.
    In einer Welt, die mehr Mut und Energie kostenlos verteilen würde, würde ich an den Türen der Lebensmüden klingeln und den Zögernden an der Hand nehmen. Hand halten hilft in den meisten Fällen. Es befremdet, verunsichert, und schon bewegt sich der Mensch ohne Widerstand. Man könnte meinen, es gäbe Angenehmeres, als von mir an der Hand durch die Dunkelheit geführt zu werden. Möglich, aber am Ende steht ein behaglicher Club bereit. Mit Kaminfeuer und Ledersofas, einer Bücherei und viel Essen. Die schönsten Filme des Jahres werden gezeigt – von mir ausgewählt –, und nun sind alle eingetroffen. Hunderte Einsame sitzen unbehaglich auf warmen Fellen, sie drehen verlegen Gläser in ihren Händen, und aus lauter Peinlichkeit beginnen sie miteinander zu reden. Und reden. Und sie finden heraus: Da sind andere wie ich, von keinem gemocht, von der Welt nicht benötigt, vom Kapitalismus aussortiert, allein in einer Wohnung hockend, aus dem Fenster starrend. Ich bin nicht alleine, die Welt hat sich nicht gegen mich verschworen, ich bin ihr einfach nur egal. Und über das Reden kommt die Entspannung. Das Essen macht müde, die Filme schläfrig. Manche machen ein Nickerchen, den Kopf an die Schulter eines anderen gelehnt, sie halten Hände, streicheln Köpfe, sie sind nicht mehr allein.
    Das könnte so einfach sein, in einem Leben, das mehr Mut und mehr Energie verteilt hätte, in dem ich losgezogen wäre und das alles genau so machen würde. Neben dem Kamin würde ich stehen und ein paar alte Menschen sehen, die sich mit Pralinen füttern, und traurige Männer, die auf einmal mit anderen traurigen Männern darüber reden, dass sie sich nicht für Autos interessieren, sondern für Gedichte. Und Frauen sind da, und sie sind sich nicht feind. So wäre das, zwischen den Jahren in einer besseren Welt, in der ich dann die Tür von außen schließen würde, weitergehend zum nächsten Ort, an dem ich klingeln und sagen würde: »Sind Sie einsam in dieser furchtbaren Zeit? Dann habe ich eine Idee für Sie. Folgen Sie mir einfach, und haben Sie keine Angst!«

Warum muss eigentlich
    ständig demonstriert werden?

    Wir haben das Gefühl, Teil der Welt zu sein und sie beeinflussen zu können, wenn wir nur laut genug sind. Das müsste, glaubt man der Glücksforschung, die Laune der Erdbevölkerung erheblich steigern, sicher um 5 Dax-Punkte auf der Glücksskala, dieses Gefühl, Veränderungen bewirken zu können. Doch scheint es das Gegenteil zu bewirken und einer neuen Sucht ein Bett zu bereiten: der Erregung. Kurzfristig und heftig wallt sie auf. Der wütende Mensch lässt Shitstorms auf Bundespräsidenten nieder, auf syrische Präsidenten, Beschneider, Frauenministerinnen und EHEC -Gurken, er formiert sich zu Flashmobs und Occupy-Camps, zu Stuttgart 21 und vor dem Kanzleramt. Zwei Tage, dann ist der Spuk vorbei und ein nagelneues Problem in der Welt gefunden.
    Die kann einen auch verrückt machen, die Welt, mit all dem Elend und der Ungerechtigkeit, den Reichen, den Armen, den Konflikten, dem Klima, das wir zu verstehen versuchen. Doch immer fliegen wir, bevor ein Gedanke zu Ende verfolgt werden kann, aus der Aufmerksamkeitskurve. Die Aufmerksamkeitsspanne ist so klein geworden, die Welt ein einziges Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Wir sind überfordert. Verallgemeinerungen mögen wir nicht. Ich bin überfordert. Es regt mich so viel auf, und ich weiß um meine Machtlosigkeit. Zugleich wird das Leben anscheinend besser: Die Neoliberalen reden vom Segen des Wachstums, mehr Bildung und Nahrung und einer höheren Lebenserwartung, der Geschmack wird besser, das Braune verschwindet … Aber warum wächst mein Verstand nicht, warum wachsen meine Nerven nicht? Die werden immer dünner. Immer mehr und schneller müssen wir arbeiten, damit uns unsere Wohnung nicht unter dem Hintern weggentrifiziert wird. Allen geht es besser, aber warum fühlt es sich nicht so an? Warum werden die Menschen immer gereizter, die Straßen voller, das Leben hektischer?
    Wir leben in der besten aller Zeiten, und trotzdem sind alle immer müde, immer am Checken, immer am Etwas-Anreißen und überfordert. Die globalisierte Welt überfordert mich und viele andere. Das kann doch keiner
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