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Wie halte ich das nur alles aus?: Fragen Sie Frau Sibylle (German Edition)

Wie halte ich das nur alles aus?: Fragen Sie Frau Sibylle (German Edition)

Titel: Wie halte ich das nur alles aus?: Fragen Sie Frau Sibylle (German Edition)
Autoren: Sibylle Berg
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meines geistigen Verfalls sein. Die Jugend verblödet also, weil sie »Die Glocke« nicht mehr auswendig lernt oder das Periodensystem der Elemente, weil sie, statt Hesse auf Papier zu lesen, einen E-Reader vorzieht, weil sie, statt in Bibliotheken Hustenanfälle zu bekommen, lieber zu Hause unwichtiges Wissen nachschlägt und weil sie, statt draußen in der Welt keine Freunde zu haben, das Gefühl der Einsamkeit lieber am Bildschirm verdrängt. Vielleicht hat der Autor recht, er ist Wissenschaftler, er hat studiert; allein, seine Beobachtung läuft dem, was ich erlebe, völlig zuwider.
    Ich erlebe die Jugend heute als außerordentlich reizend. Eigentlich so wie immer. Es gibt ein paar Schwachköpfe, einige aggressive Randalierer, ein paar, die völlig Stulle sind und es im Leben zu nichts bringen werden, außer dass sie den Mitmenschen auf die Nerven fallen, und es gibt viele, die reizend sind, neugierig und die glauben, die Welt ändern zu können. Alles wie gehabt. Die Jugend heute ist meinem Empfinden nach politischer als früher, weil sie sich schnell informieren und verabreden kann, weil es leichter ist, an Fakten zu gelangen, als in der Zeit vor dem Internet, als alle das nacherzählten, was in Zeitungen und Fernsehen vorgekaut wurde, und weil es damals wirklich anstrengend war, in Bibliotheken nach Gegenmeinungen zu suchen.
    Vielleicht sind die jungen Menschen heute mehr am Konsumieren interessiert als vor 50 Jahren, aber wer bitte ist das nicht? Ich sehe Jugendliche in Trams lesen, ich sehe Mädchen verlegen grinsen, wenn ich sie anschaue, weil sie mir so gut gefallen, so sauber nach Seife riechend oder mit Dreadlocks, die noch nie einer vor ihnen hatte, ich mag ihre Tätowierungen, das trägt man eben heute so, wie man vor zehn Jahren Bauchnabelpiercings trug oder vor 20 Jahren blaugefärbte Haare. Nichts öder als Menschen in beiger Kleidung, die Witze über Tätowierungen an alternder Haut machen. Ich mag jugendliche Jungs, die nicht wissen, wohin sie ihre großen Füße stecken sollen, und ich finde wunderbar, wie ernsthaft jugendliche Menschen über die Welt nachdenken. Natürlich erzählen sie genauso viel Müll wie wir älteren, aber warum auch nicht? Warum sollten sie sich nicht empören und es im nächsten Moment vergessen und nach Kleidern suchen oder in sozialen Netzwerken abhängen, warum sollten sie nicht zu viel trinken und Drogen nehmen und sich ihr Gehirn bei Online Games braten lassen? Wer die Dummheit der Jugend beklagt, kann selber nicht wahnsinnig intelligent sein, denn er hat vergessen, wie es sich anfühlte, dieses Jungsein mit dem Gefühl, die Welt sei zu groß für einen, und man wollte alles, nur nie, nie so alt werden wie die Alten in ihren dämlichen Anzügen. Die Jugendlichen heute müssen so schnell sein, so parat, so fix in ihren Entscheidungen, denn es ist enger geworden auf der Welt, die wir Älteren ihnen wieder ein Stückchen verdorbener hinterlassen. Seien wir doch einfach ruhig und betrachten die jungen Menschen als Teil von uns, als einen Teil, den wir lieben und beschützen müssen, aber nicht vor dem bösen Internet, sondern vor Erwachsenen.
    Wie uns.

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    Die mit Büchern vollgestellten, nach Papier riechenden Räume in einem Haus in einem Münchner Villenviertel, in dem fast nur noch Fußballer wohnen, waren mit Menschen gefüllt, die die meisten auf der Straße vermutlich übersehen würden. Buchmenschen mit altem Kaschmir und Senftönen, mit Schals um den Hals und guten Manieren. Menschen, die aussehen wie Bücherregale – auf den zweiten Blick interessant. Herr Enzensberger redete mit dem Übersetzer schwieriger Eco-Werke; Joachim Kaiser las irgendwas; alle rauchten und tranken viel, aber nicht so viel, dass es laut oder unangenehm geworden wäre; der Verleger saß umringt von Frauen, die sich ausschließlich für Literatur interessierten, und erzählte aus dem Osten oder vom Krieg. Ich fühlte mich alt und aussterbend und wurde traurig, wie man es eben wird, wenn man aus der Zeit fällt und man Veränderungen begrüßen muss, weil die Alternative Altersstarrsinn wäre.
    Da saßen sie also, die bösen Verwerter, die Feinde der Internetgeneration, die Blutsauger, denen man das Wasser abgraben muss, beziehungsweise das Geld, indem man es armen Underdogs wie Amazon gibt. Das sind die senffarbenen Blutsauger bei Hanser, die alle an Werte glauben, die heute kaum mehr einen interessieren, weil sich mit ihnen kein
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