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Wie ein Flügelschlag

Wie ein Flügelschlag

Titel: Wie ein Flügelschlag
Autoren: Jutta Wilke
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kniet. Neben ihm Bernges und ein
weiterer Mann. Ich presse mich fester gegen die Scheibe. Der
Mann läuft jetzt auf und ab, gestikuliert wild und schreit in sein
Handy. Drexler steht auf, stopft die zu Fäusten geballten Hände
in die Taschen seiner ausgebeulten Trainingshose. Auf einmal
hebt Bernges den Blick und wendet sich mir zu. Ich starre ihm
ins Gesicht. Er starrt zurück. Dann schüttelt er den Kopf und
schaut wieder dahin, wo Drexler eben noch gekniet hat. Meine
Augen folgen seinem Blick, mein Herz schlägt bis zum Hals.
    Die Scheibe scheint unter dem Druck meiner Hände und meiner
Stirn nachzugeben. Ich spüre, wie sich all meine Gedanken,
meine Fragen und meine Wut in mir zu einem einzigen Klumpen
zusammenballen. Einem dicken eiskalten Klumpen, der
immer größer wird, erst meinen Hals ausfüllt, dann meinen
Magen, dann meinen ganzen Bauch.
    Alles fühlt sich falsch an. Ganz falsch. Ich werde keine Silberhaut
bekommen wie meine Bäume im Wald. Die Kälte muss
von außen kommen, um zu schützen. Nicht von innen.
    Und während sich dieser eisige Klumpen in mir ausbreitet,
wandert mein Blick zu dem Körper auf dem Hallenboden. Hält
sich an den Füßen fest, will nicht über die nackten Beine nach
oben wandern, über den schwarzen Schwimmanzug, den flachen
Bauch, und wird doch von diesem eisigen Klumpen immer
weiter gezogen, über den Brustkorb, der vollkommen bewegungslos
ist, bis zu dem Gesicht, das mir zugewandt am Boden
liegt, eingerahmt von nassen Locken.
    Ein Engel mit gebrochenen Flügeln.
    Der Klumpen in mir zerspringt, und tausend kleine Eissplitter
durchbohren mein Herz, als ich kurz in die starren Augen
sehe, bevor einer der Männer eine Decke darüberlegt.
    Melanie. Melanie Wieland.
    »Du blöde Kuh! Du gottverdammte elende blöde Kuh!«
    Diesmal weiß ich, dass ich es bin, die schreit. Die Starre fällt
von mir ab, meine Hände lösen sich, meine Fäuste trommeln
gegen die Scheibe, als müsste ich nur fest genug auf sie einschlagen
und laut genug schreien, damit Mel wach wird, die Decke
von sich wirft und aufsteht.
    Blau – weiß – blau – weiß.
    Und Nicki in meinem Kopf singt:
    But I think I'm still an angel away …

    Nein! Nein! Nein! Nein! Warum hast du das gemacht? Warum?
Ich reiße mir die Kopfhörer runter. Meine Stirn schlägt im gleichen
Rhythmus wie meine Fäuste gegen das Glas. In der Halle
geraten sie in Bewegung, Drexler, die beiden Männer, Bernges,
alle rühren sich, nur Melanie nicht. Die liegt weiter unter ihrer
Decke wie Dornröschen, träumt meine Träume, lacht im Schlaf
über mich und verhöhnt meinen Ehrgeiz.
    Ich rutsche an der Glasscheibe hinunter in den Schnee. Die
Eissplitter in mir haben keinen Platz mehr und endlich finden
sie ihren Weg nach draußen.
    Ich kotze mir meine ganze beschissene Seele aus dem Leib.
    Melanie Wieland ist tot. Und ich –
    habe sie umgebracht.

»Nein, nein, NEIN!« Drexlers Faust donnerte auf den Startblock.
»Verdammt noch mal, Uhland, was war DAS? Beweg
deinen Hintern aus dem Wasser! Sofort! Schwarzer! Komm
her! Zeig uns, wie man eine ordentliche Rollwende macht!«
    Ich stöhnte. Nicht schon wieder. Nora kletterte aus dem Becken
und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie sah mich
mit diesem Blick an, der sagte: Du blödes Arschloch, was hast du
eigentlich hier zu suchen? Verschwinde wieder dahin, wo du hergekommen
bist!
    Ich sah den Mittelfinger, den sie hinter Drexlers Rücken hob,
und tauchte ab. Unter Wasser war Drexlers Gebrüll nur noch
ein Dröhnen. Ich versuchte, Noras Blick aus meinem Kopf zu
kriegen. Schwimmen. Linker Arm, rechter Arm, atmen. Links.
Rechts. Atmen. Unter mir nur das Wasser und die Markierung.
Kopf senken. Kinn zur Brust. Leichter Delfinbeinschlag. In der
Drehung Nase zu den Knien, Ferse zum Hintern. Beine nicht
durchstrecken. Obwohl ich ihn nicht hörte, kannte ich Drexlers
Kommentare. Nicht auf dem Bauch abstoßen. Auf dem Rücken.
    Vor der Wende nicht nach vorne schauen. Kein Blick nach
vorne. Nach dem Abstoßen mindestens einen Armzug nicht atmen.
Und wieder. Nicht nach vorne schauen. Denk an die Gleitphase.
Ich schwamm. Links, rechts, atmen. Links, rechts, atmen.
Und Wende. Meine Grenze war der Beckenrand. Dazwischen
war ich frei.
    Drexler pfiff. Das war's für heute. Mittagspause. Die anderen
waren schon auf dem Weg zu den Duschen, als ich aus dem Wasser
stieg.
    »Beweg deinen Hintern aus dem Wasser, beweg deinen Hintern
aus dem Wasser!«, hörte ich Bea grölen.
    »Halt's Maul!« Nasse Handtücher
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