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Wie ein Flügelschlag

Wie ein Flügelschlag

Titel: Wie ein Flügelschlag
Autoren: Jutta Wilke
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mich am
Arm fest. Erstaunt blieb ich stehen.
    »Ich mache mir Sorgen um Melanie. Ihr Vater setzt sie zu sehr
unter Druck. Pass ein bisschen auf sie auf, ja?«
    Ich starrte Bernges an. Meinte er das ernst? Glaubte er wirklich,
ich, Jana Schwarzer, hätte auch nur den Hauch einer Chance,
auf Melanie Wieland aufzupassen? Und worauf genau sollte ich
überhaupt achten? Bekam Melanie nicht ohnehin schon alles,
was sie sich nur wünschen konnte? Sie sah supergut aus. Sie
war die talentierteste Schwimmerin an unserer Schule. Melanie
konnte mit ein bisschen Ehrgeiz alles schaffen. Sogar Olympia
lag für sie in Reichweite. Es war doch klar, dass ihr Vater da ein
wenig Druck machte. Schließlich soll er in seiner Jugend selbst
ein erfolgreicher Schwimmer gewesen sein. Einige seiner Pokale
zierten heute noch die geheiligte Heldengalerie im Flur vor dem
Lehrerzimmer.
    Einmal habe ich Melanie gefragt, ob sie nicht wahnsinnig stolz
sei auf ihren Vater. Da hat sie nur böse gelacht und mich einfach
stehen lassen. Seitdem habe ich das Thema ihr gegenüber nie
wieder angesprochen. Besonders gut schien das Verhältnis zwischen
den beiden jedenfalls nicht zu sein. Aber im Gegensatz zu
mir
hatte
sie immerhin einen Vater.
    »Also dann. Schau mal vorbei.« Bernges riss mich aus meinen
Gedanken. Bevor ich etwas antworten konnte, wendete er
seinen Rollstuhl und fuhr davon.

»Blöde Sache, das mit deinen Klamotten.«
    »Mhm.«
    »Ist jetzt schon das dritte Mal, oder?«
    Ich zuckte mit den Schultern. Tom reichte mir mein Sweatshirt.
    Ohne seine Hilfe würde mein Zeug vermutlich immer noch
in den Bäumen auf dem Schulhof hängen. Ich hatte versucht, die
Sachen mit einem Besen runterzuschlagen, aber ich war einfach
zu klein.
    »Danke.« Ich stopfte das Shirt in meinen Sportbeutel. Ich
wusste, ich sollte noch irgendetwas Nettes zu ihm sagen, aber
mir fiel einfach nichts ein.
    »Vielleicht versuchst du es mal damit, ein bisschen lockerer
zu sein.«
    »Lockerer?« Ich starrte Tom an.

    »Na ja, nicht so abweisend. Lockerer halt.« Er sah an mir vorbei.
»Ich glaub, die haben einfach Angst vor dir.«
    Angst. Wenn Tom wüsste, wie viel Angst ich vor den anderen
hatte. Nicht als Konkurrenten im Training. Im Wasser waren
wir alle gleich. Aber draußen. Draußen war es, als kämen sie aus
einer anderen Welt. Einer Welt, die ich bisher nur aus dem Fernsehen
kannte. Aber darüber wollte ich nicht mit ihm reden.
    »Danke noch mal. Ich bringe jetzt den Besen zurück.«
    Tom war nett. Trotzdem ging er mir manchmal auf die Nerven.
Ich konnte einfach nicht damit umgehen, dass er immer
helfen wollte. Es irritierte mich so, weil es nicht hierher passte.
Niemand an dieser Schule interessierte sich doch dafür, wie es
dem anderen ging. Im Grunde waren die anderen immer nur
die, die es zu besiegen galt. Wer besser war, kam weiter. Das war
draußen so. Und das war hier drin nicht anders.
    In Gedanken korrigierte ich mich. Melanie war anders. Obwohl
sie die einzige ernsthafte Konkurrenz für mich war, hatte
sie sich von Anfang an bemüht, mir zu helfen. Nur im Wasser
nahm sie keine Rücksicht auf mich, und das war okay so.
    Ich hatte mir gerade den Besen geschnappt, als sie über den
Schulhof kam.
    »Hallo, ihr zwei. Hast du deine Sachen wieder, Jana?«
    Ich nickte. »Tom hat mir geholfen, sonst wäre ich nie drangekommen.
«
    Melanie klopfte ihm auf die Schulter. Dann breitete sie die
Arme aus und deklamierte:
    »Darauf sei dir, Herr, erwidert,
    dass das Geben einen Mann
    adeln und erhöhen kann!«
    Tom grinste und verbeugte sich schwungvoll. Mel zwinkerte
mir zu. »Manchmal ist es ganz nützlich, wenn man seine Texte
rechtzeitig auswendig lernt.«
    »Wolltest du nicht nach Hause fahren?« Jetzt fiel es mir wieder
ein. Mel hatte die Theater-AG doch für heute abgesagt.
    »Mein Vater steht länger als geplant im OP. Mein Bruder hat
mich angerufen. Ich konnte also noch zu den Proben gehen.«
    Melanie wirkte glücklich, als sie das sagte. Und ich war neidisch.
Einen Bruder hatte ich mir auch oft gewünscht. Einen,
der mir ein bisschen den Rücken freihielt, wenn Mama wieder
ihre Klammertage hatte. So nannte ich die Tage, an denen meine
Mutter sich mit schöner Regelmäßigkeit in ihren Depressionen
verfing und sich an mich hängte wie ein Ertrinkender an einen
Rettungsring. In diesen Phasen schnürte sie mir regelrecht die
Luft ab und ich wollte noch dringender weg als ohnehin schon.
    Vielleicht ging es Melanie ja ähnlich, überlegte ich. Vielleicht
war das
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