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Wie ein einziger Tag

Wie ein einziger Tag

Titel: Wie ein einziger Tag
Autoren: Nicholas Sparks
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eine Ewigkeit, bis ich am Empfangstisch angelangt bin, aber merkwürdigerweise nimmt sie mich gar nicht zur Kenntnis. Ich bin ein Panther, der lautlos durch den Dschungel schleicht.
    Als sie mich schließlich doch entdeckt, bin ich nicht überrascht. Ich stehe vor ihr.
    »Noah«, sagt sie, »was tun Sie hier?«
    »Ich gehe spazieren«, sage ich. »Ich kann nicht schlafen.«
    »Sie wissen doch, daß das nicht erlaubt ist.«
    »Ja, ich weiß.«
    Ich rühre mich jedoch nicht vom Fleck. Ich bin fest entschlossen.
    »Sie wollen gar nicht Spazierengehen, stimmt's? Sie wollen zu Allie.«
    Ich nicke.
    »Noah, Sie wissen doch noch, was passiert ist, als Sie sie das letzte Mal nachts besucht haben.«
    »Ja, ich weiß.«
    »Dann sollte Ihnen klar sein, daß Sie nicht wieder zu ihr gehen dürfen.«
    Statt darauf zu antworten, sage ich: »Sie fehlt mir so.«
    »Das weiß ich, aber es geht trotzdem nicht.«
    »Heute ist unser Hochzeitstag«, sage ich. Es stimmt. Es ist der neunundvierzigste. Ein Jahr vor der Goldenen Hochzeit.
    »So?«
    »Ich kann also gehen?«
    Sie blickt kurz zur Seite, und ihre Stimme wird sanfter. Ich bin erstaunt, denn ich habe sie nie für einen Gefühlsmenschen gehalten.
    »Noah, ich arbeite nun schon seit fünf Jahren hier und habe vorher bereits in einem anderen Heim gearbeitet. Ich habe Hunderte von Paaren erlebt, die Leid und Kummer bewältigen mußten, aber nie war da jemand, der so wie Sie gekämpft hat. Und niemand hier, weder die Ärzte noch die Krankenschwestern, hat je so etwas erlebt.«
    Sie schweigt eine Weile, und plötzlich füllen sich ihre Augen mit Tränen. Sie wischt sie schnell mit dem Handrücken weg und fahrt fort:
    »Ich versuche, mir vorzustellen, was es für Sie bedeutet, wie Sie das schaffen, Tag für Tag. Es ist mir unbegreiflich. Manchmal besiegen Sie sogar ihre Krankheit. Die Ärzte verstehen es nicht, wohl aber die Schwestern. Es ist die Liebe - ganz einfach. Noch nie habe ich etwas so Unglaubliches erlebt.«
    Ich spüre einen Kloß im Hals und bleibe stumm.
    »Aber, Noah, Sie wissen, daß Sie jetzt nicht zu ihr dürfen. Ich kann es nicht erlauben. Also gehen Sie zurück in Ihr Zimmer.« Dann lächelt sie, schiebt ein paar Papiere auf ihrem Tisch beiseite und sagt: »Ich gehe jetzt nach unten, um einen Kaffee zu trinken. Ich kann eine Weile nicht nach Ihnen sehen. Also machen Sie inzwischen keine Dummheiten.«
    Sie erhebt sich rasch, klopft mir auf die Schulter und eilt zur Treppe. Sie schaut sich nicht um, und plötzlich bin ich allein. Was ich von all dem halten soll, weiß ich nicht, denn auf ihrem Tisch steht eine volle, noch dampfende Tasse Kaffee, und wieder begreife ich, daß es gute Menschen auf der Welt gibt.
    Als ich meinen beschwerlichen Weg zu Allies Zimmer antrete, ist mir zum ersten Mal seit Jahren warm. Ich mache nur winzige Schritte, doch selbst bei diesem Schneckentempo ist es gefährlich, weil meine Beine schon müde sind. Ich muß mich, um nicht zu fallen, an der Wand abstützen. Das grelle Neonlicht über mir blendet mich, und ich blinzle mit den Augen. Ich komme an vielen Zimmern vorbei, an Zimmern, in denen ich vorgelesen habe. Dort leben meine Freunde, deren Gesichter mir vertraut sind und die ich morgen wieder besuchen werde. Aber nicht heute nacht, denn mir bleibt keine Zeit, diese Reise zu unterbrechen. Ich mache weiter, und diese Anstrengung preßt das Blut durch meine verengten Arterien. Ich fühle mich mit jedem Schritt stärker werden. Ich höre hinter mir eine Tür, die sich öffnet, aber ich höre keine Schritte, und ich gehe weiter. Ich bin jetzt ein Fremder. Niemand kann mich aufhalten. Im Schwesternzimmer klingelt das Telefon, und ich setze meinen Weg fort, um nicht erwischt zu werden. Ich bin ein mitternächtlicher Dieb, bin maskiert und fliehe hoch zu Roß aus verschlafenen leeren Städten, sprenge gelben Monden entgegen mit Goldstaub in den Satteltaschen. Ich bin jung und stark, und mein Herz ist voller Leidenschaft; ich werde die Tür aufbrechen und sie auf den Armen ins Paradies tragen.
    Wem will ich etwas vormachen?
    Ich führe heute ein einfaches Leben. Ich bin ein törichter alter Mann, der verliebt ist, ein Träumer, der von nichts anderem träumt, als Allie vorzulesen und sie, wann immer es geht, in den Armen zu halten. Ich bin ein Sünder mit vielen Fehlern, ein Mann, der an Magie glaubt, aber ich bin zu alt, um mich zu ändern, um etwas zu verändern.
    Als ich schließlich ihr Zimmer erreiche, bin ich völlig erschöpft. Meine Beine
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