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Wie du Ihr

Wie du Ihr

Titel: Wie du Ihr
Autoren: Bernard Beckett
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irgendwann an einen Punkt kommt, an dem man sich nicht mehr wehrt. Am Ende siegt der Körper. Gestern Abend ist mir das auch beinahe passiert. Ich war auf der Toilette und hörte plötzlich ganz merkwürdige Laute. Ein paar Sekunden später merkte ich, dass es meine eigene Stimme war.
    »Ich bin Marko«, murmelte ich. »Ich bin Marko.« Als wäre mein Kopf so sehr mit unausgesprochenen Worten gefüllt, dass sie einfach aus meinem Mund quollen. Und selbst als ich merkte, dass es meine eigene Stimme war, musste ich mich zwingen, wieder aufzuhören. Es tat so gut, diese Geräusche zu machen und das Schweigen zu brechen, das meinen Verstand quälte. Nur der Gedanke an den Arzt und daran, was ich ihm noch schuldig war, ließen mich wieder verstummen.
    Heute musste ich mich auch wieder beherrschen. Mittlerweile laufe ich den ganzen Tag herum, aber keiner scheint mich groß zu beachten. »Ich bin das nicht«, sage ich mir ständig im Geiste, aber das macht es auch nicht viel besser. Die Hälfte der Patienten hier würde behaupten, sie seien völlig normal. Manchmal bestätigen die Ärzte das sogar. Sie kommen mit dem Gutachten und den Entlassungspapieren und schütteln dem Patienten feierlich die Hand. Dann kommen die Familienmitglieder, die ihre Unsicherheit hinter erleichterten Mienen verbergen. Aber mich holt keiner ab. Der gute, alte Doktor hat andere Pläne für Marko Turner.
    Man hat mir erlaubt, bei der Ergotherapie mitzumachen. Normalerweise ist so was nicht so mein Ding, aber an einem Tag voller Nichts kann sogar der Gang zur Toilette zum Höhepunkt werden. Wir machen Ledergürtel. Es ist ziemlich leicht, aber ich gebe mir Mühe, mich nicht allzu geschickt anzustellen. Das ist gar nicht so einfach, weil ich keine Ahnung habe, was sie von mir erwarten. Sie geben uns Lederstreifen und drei verschiedene Schablonen zur Auswahl. Mit denen hämmern wir dann die Muster drauf. Dann gibt es noch eine Stanze, mit der die Löcher gemacht werden. Es ist ein Vertrauensbeweis, dass sie uns mit so scharfen Werkzeugen arbeiten lassen. Aber Billy hat ihnen heute bestimmt Anlass zum Nachdenken gegeben.
    Ich habe ihn nicht provoziert. Warum sollte ich? Ich arbeitete gerade an meinem dritten Gürtel und war in die einfache Arbeit versunken. Wahrscheinlich habe ich nur im falschen Moment aufgesehen, als er sich mit seinen ungeschickten Wurstfingern abmühte, die Gürtelschlaufe durch die viel zu enge Schnalle zu schieben. Dicke Finger an riesigen Pranken, die kein bisschen zu seinen mageren Armen passen. Er ist um die vierzig, hat eine Glatze, eine rote Nase und den Bauch eines Schreibtischarbeiters.
    Seine Frau und zwei Kinder kommen ihn fast jeden Tag besuchen. Manchmal denke ich mir Geschichten zu den Patienten aus. Ich stelle mir vor, was sie aus der Bahn geworfen hat. Bei Billy muss ich immer wieder an seine Hände denken. Es würde jeden irgendwann verrückt machen, die falschen Hände zu haben. Ich habe kleine Hände wie meine Mutter. Vielleicht hat Billy meine Hände gesehen und dass ich schon zwei Gürtel fertig hatte. Vielleicht hat ihn das angekotzt. Oder vielleicht bedeutet verrückt zu sein auch einfach nur, dass man Dinge tut, für die es keinen Grund gibt.
    Ein Gutes hat mir dieser Ort gebracht. Seit ich hier bin, hat sich meine Reaktionsfähigkeit enorm verbessert. Ich glaube kaum, dass ich die Bewegung unter normalen Umständen so schnell gesehen hätte. So konnte ich noch rechtzeitig ausweichen. Er verfehlte mich und stieß gegen einen Tisch, auf dem die Tonfiguren der vorherigen Gruppe standen. Als er sich zu mir umdrehte, kam all die Wut, die sich aufgestaut hatte, in mir hoch. Plötzlich stand nicht mehr Billy vor mir, sondern der Arzt. Ich packte ihn an den Schultern und stieß ihn mit ungeahnter Wucht gegen die Wand. Ich ging ganz nah an sein Gesicht heran und spürte, wie einfach es gewesen wäre, ihn zu töten. Nur dass es nicht den Arzt, sondern den armen Billy getroffen hätte und all meine Wut nutzlos war.
    »Willst du Ärger?«, wollte ich ihm in sein armes, verwirrtes Gesicht zischen. Er wusste schon nicht mehr, wie er in diese Lage geraten war. Ich zwang mich aufzuhören. Und starrte ihn an. So wie es ein Verrückter tun würde, der nicht mehr redet. Zumindest hoffte ich das. Dann trat ich langsam zurück.
    Es war das Richtige. Margaret war bei uns, und als ich mich umdrehte, sah ich, wie genau sie mich beobachtete und nach einem Anzeichen suchte. Sie weiß etwas. Da bin ich mir sicher. Vielleicht ist sie
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