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Wie der Vater so der Tod

Wie der Vater so der Tod

Titel: Wie der Vater so der Tod
Autoren: Tracy Bilen
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widerspiegelt, wie wir alle empfinden. Leider bedeutet es auch, dass ich beim Saubermachen einspringen muss. Mein Vater verlangt, dass in der Küche keine Teller auf der Arbeitsplatte stehen, im Wohnzimmer keine Zeitschriften auf dem Couchtisch liegen und man im Wäscheraum nicht auf Wäsche tritt. Und das ist nur der Anfang.
    Ich laufe in den Flur, setze mich vor meinem Vater auf den Boden und ziehe die Turnschuhe an. »Hallo, Dad.«
    »Hallo. Wie war dein Tag?« Manchmal klingt er so normal und vernünftig.
    »Gut«, sage ich. Meine Stimme ist ein wenig zu hoch, selbst für ein Mädchen. »Ich fahre ein bisschen mit dem Rad herum. Kommst du mit?«
    Falsche Frage. Er runzelt die Stirn und tritt ans Fenster, ohne zu antworten. Seit Matts Tod ist mein Vater nicht mehr aufs Rad gestiegen. Früher sind wir oft Fahrrad gefahren. Matt, Dad und ich. Wegen der Schussverletzung aus seiner Zeit als Polizist kann Dad nicht mehr mit uns laufen, aber Rad fahren kann er. Seltsam. Wenn ich mit dem Fahrrad unterwegs bin, fühle ich Matt noch immer neben mir und höre, wie der Kies unter seinen Reifen knirscht. Es ist mein Vater, der zu fehlen scheint.
    Ich habe die Turnschuhe an und stehe auf. »Ich frage Mom besser, wie viel Zeit noch bis zum Abendessen bleibt«, sage ich und flitze zum Schlafzimmer meiner Eltern.
    Mom streicht gerade die Decke glatt. Die ganze Sache mit den gepackten und unter dem Bett versteckten Klamotten macht mich so nervös, dass ich meinen Pferdeschwanz drehe. Es fühlt sich an, als wäre ein Flugzeug abgestürzt und als könnte nur ich das Signal der Blackbox hören. Ich hoffe, Dad hört es nie.
    »Ich wollte nur wissen, wie viel Zeit noch bis zum Essen bleibt«, sage ich von der Tür her. Mom und ich vermeiden es, uns anzusehen. So ist es einfacher. »Ich möchte ein bisschen Rad fahren.«
    »Klar, viel Spaß«, erwidert sie etwas zu laut. »Sei in einer Stunde zurück!«
    Ich radle über die unbefestigte Zufahrt, umgeben von zwanzig Morgen Heu und angenehmen Düften. Wir betreiben keine Landwirtschaft – jene Morgen sind nur ein Kissen zwischen uns und dem Rest der Welt. Heuschrecken hüpfen vor mir her und springen aus dem Weg. Ich sehe zu unserem Haus zurück: weiße Vinylverkleidung, schwarze Leisten, grünes Dach. Umgeben ist es von reichlich Gebüsch, steinernen Fröschen, Gartenzwergen und künstlichen Libellen an Metallstangen, aber es gibt keine Blumen mehr. Früher hat sich Mom um den Garten gekümmert. Im Frühling verbrachten wir jeden Samstag damit, Gras auszureißen und weitere Blumenbeete anzulegen, aber dieses Jahr ist das Gras wiedergekommen, und meine Mutter hat es wachsen lassen.
    Chester, das Pferd unseres Nachbarn, steht am Zaun und wirft den Kopf hin und her. Oft füttere ich es nachmittags mit Karotten. Plötzlich kriege ich Herzklopfen. Wie wird es Chester gehen, wenn ich nicht mehr hier bin? Mr. Jenkins pflegt das Pferd ungefähr so gut wie sein Haus. Mit anderen Worten: Er kümmert sich kaum darum. Das Dach braucht neue Schindeln und die Scheune einen frischen Anstrich. Außerdem müssten die Sträucher gestutzt, der Zaun repariert und die Hausverkleidung erneuert werden. Dad hat im Kopf eine Liste mit mindestens hundert Punkten erstellt, die Jenkins seiner Meinung nach erledigen müsste. Die Hälfte dieser Punkte fiele auch anderen Leuten ein, der Rest betrifft Sachen, auf die nur mein Vater kommt.
    Während ich in die Pedale trete, denke ich an In der Schusslinie , meine Lieblingsserie im Fernsehen. Darin geht es um das Zeugenschutzprogramm. Ich habe es mir immer aufregend vorgestellt, sich hinter einer neuen Identität zu verstecken, aber ich hätte nie gedacht, dass ich selbst in eine solche Situation geraten könnte. Außerdem habe ich den Schmerz unterschätzt, den es mir bereiten wird, meinen Vater nicht wiederzusehen. Er war nicht immer so. Als wir noch in Philadelphia wohnten und er bei der Polizei arbeitete, hat er oft gelächelt. Im Anschluss an unseren Umzug nach Michigan lächelte er viel seltener. Seitdem mein Bruder sich umgebracht hat, lächelt er gar nicht mehr. Und er lässt es an Mom aus. Mich rührt er nicht an.
    Dads Stimme hallt mir durch den Kopf. Was Matt getan hat, ist deine Schuld. Was habe ich mir nur gedacht? Vielleicht hat er herausgefunden, dass wir ihn verlassen wollen. Was würde er Mom antun? Ich hätte sie nicht mit ihm allein lassen sollen. Was nicht bedeutet, dass ich eine große Hilfe wäre.
    Ich wende das Rad und trete noch fester in die
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