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Wie der Soldat das Grammofon repariert

Wie der Soldat das Grammofon repariert

Titel: Wie der Soldat das Grammofon repariert
Autoren: Sasa Stanisic
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Opas Herz folgen können, auch Oma nicht, wehe mir, warum, warum, warum, Slavko. Teta Amela aus dem zweiten Stock sank nieder, jemand brüllte: Herz Jesu!, ein anderer verfluchte sofort Jesus’ Mutter und einige weitere Familienmitglieder noch dazu. Oma zerrte an Opas Hosenbeinen, schlug nach den beiden Sanitätern, die mit ihren Köfferchen im Wohnzimmer auftauchten, Hände weg!, schrie sie. Die Sanitäter trugen unter ihren Kitteln Holzfällerhemden und zogen Oma von Opas Beinen ab, als lösten sie eine Muschel vom Stein. Opa würde für Oma erst dann tot
sein, wenn sie ihn loslässt. Sie ließ nicht los. Die Weißkittel horchten in Opas Brust, einer hielt ihm einen Spiegel vors Gesicht und sagte: nichts.
    Ich schrie, dass Opa noch da sei, und dass sein Tod nicht konform mit den Zielen des Kommunistischen Bundes gehe. Aus dem Weg, meinen Zauberstab her und ich beweise es euch!
    Niemand beachtete mich. Die Holzfäller-Sanitäter gruben in Opas Hemd und leuchteten mit einem Stift in sein Auge. Ich zog das Stromkabel, und der Fernseher verstummte. In der Ecke neben der Steckdose hingen lose Spinnwebenfäden. Um wie viel leichter als ein Menschentod wiegt ein Spinnentod? Welches tote Bein ihres Ehemannes umklammert die Spinnenfrau? Ich nahm mir vor, niemals wieder eine Spinne in eine Flasche einzusperren und langsam Wasser hineinlaufen zu lassen.
    Wo war mein Zauberstab?
    Ich weiß nicht, wie lange ich in der Ecke gestanden habe, bevor mich mein Vater am Arm fasste, als nehme er mich gefangen. Er übergab mich meiner Mutter, sie zerrte mich durch das Treppenhaus in den Hof. Die Luft roch nach Mirabellenmaische, auf dem Megdan brannten Feuer. Vom Megdan aus kann man fast die ganze Stadt sehen, vielleicht auch in den Hof vor dem großen Haus mit seinen fünf Stockwerken, für Višegrad schon ein Hochhaus, wo sich eine junge Frau mit langem schwarzen Haar und braunen Augen zu einem Jungen mit der gleichen Haarfarbe und den gleichen Mandelaugen beugte. Sie pustete ihm Strähnen aus der Stirn, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Was sie zu dem Jungen flüsterte, war auf dem Megdan nicht zu hören. Wahrscheinlich war auch nicht zu erkennen, dass der Junge, nachdem ihn die Frau umarmt und lange, lange fest gehalten hatte, nickte. So wie man nickt, wenn man etwas verspricht.
     
    Am Abend des dritten Tages nach Opa Slavkos Tod sitze ich in der Küche und blättere Fotoalben durch. Ich nehme alle
Fotos von Opa Slavko aus dem Album heraus, noch weiß ich nicht, was ich mit ihnen vorhabe. Im Hof legt sich unsere Kirsche mit dem Wind an, ein Sturm. Nachdem ich Opa Slavko die Fähigkeit gegeben haben werde, wieder zu leben, wird mein nächster Streich sein, uns allen die Fähigkeit zu geben, Geräusche festzuhalten. Wir werden den Wind in den Kirschblättern und das Rumoren des Donners und das nächtliche Hundebellen im Sommer in ein Album aus Tönen legen können. Und hier hacke ich Holz für den Kamin – so werden wir unser Leben aus Tönen stolz vorführen wie sonst die Bilder aus dem Adria-Urlaub. Kleine Geräusche wird man in der Faust tragen können. Meiner Mutter würde ich ihr Lachen der guten Tage über die Sorgen im Gesicht legen.
    Die bräunlichen Fotos mit dem breiten, weißen Rand riechen nach Plastiktischdecken und zeigen Menschen mit komischen, nach unten breiter werdenden Hosen. Vor den Fassaden eines unfertigen Višegrads steht ein kleiner Mann in Bahnwärteruniform und sieht geradeaus, steif wie ein Soldat: Opa Rafik.
    Opa Rafik, der Vater meiner Mutter, ist schon lange endgültig tot, er ist in der Drina ertrunken. Ich kannte ihn kaum, erinnere mich aber an ein Spiel mit ihm, ein einfaches Spiel. Opa Rafik zeigte auf etwas, und ich nannte davon den Namen, die Farbe und das Erste, was mir dazu einfiel. Er zeigte auf sein Taschenmesser, und ich sagte: Messer, grau und Lokomotive. Er zeigte auf einen Spatz, und ich sagte: Vogel, grau und Lokomotive. Opa Rafik zeigte durch das Fenster in die Nacht, und ich sagte: Träume, grau und Lokomotive, und Opa deckte mich zu und sagte: schlaf eisern.
    Die Zeit meiner grauen Periode war die Zeit meiner Besuche beim Augenarzt, der nichts feststellte, außer, dass ich mir zu schnell Sachen merken konnte, zum Beispiel die Reihenfolge der kleinen und großen Buchstaben auf seinem Plakat. Frau Krsmanović, das müssen Sie ihm irgendwie austreiben, sagte der Arzt und verschrieb meiner Mutter Tropfen wegen ihrer immer geröteten Augen.

    Vor Lokomotiven und Zügen fürchtete ich
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