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Wenn alle anderen schlafen

Wenn alle anderen schlafen

Titel: Wenn alle anderen schlafen
Autoren: Marcia Muller
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fraglichen Tag. Und
auch nicht darüber, was ich für ein Mensch bin. Wie sollten Sie auch? Sie sind
viel zu sehr damit beschäftigt, Sie zu sein, Ihr Glamourleben zu führen.«
    »Was soll das heißen?«
    »Wissen Sie noch, am
Valentinstag? Ich bin abends in Ihrem Büro gewesen, nach Feierabend, weil ich
dachte, da hätten Sie vielleicht Zeit, in Ruhe zu reden. Ich wollte Sie bitten,
mir noch eine Chance zu geben, wegen dem Job. Aber Sie waren nicht da, also
habe ich einen langen Spaziergang gemacht, den Embarcadero runter, um mir zu
überlegen, wie ich Sie dazu bringen könnte, mich doch zu nehmen. Ich hatte ein
paar Tage vorher etwas Schreckliches erlebt —«
    »Mit Russ Auerbach.«
    »Sie wissen davon?«
    »Ich habe mit ihm gesprochen.«
    »Mein Gott.« Sie schloß kurz
die Augen, ehe sie weitersprach. »Ich kann nicht über ihn reden — werd’s nie
können. Also, jedenfalls, Valentinstag. Als ich von meinem Spaziergang
zurückkam, sah ich Sie und ein paar andere Leute vor dem Hills Plaza aus einer
Limousine steigen. Ich stehe da, als Bettlerin, und Sie steigen aus einer Limousine,
in einem schicken roten Kleid, mit lauter eleganten Leuten. Ich bin Ihnen ins
Restaurant gefolgt und habe zugeguckt, wie Sie sich amüsiert haben, und ich
hatte einen solchen Haß auf Sie, weil ich wußte, ich werde nie so ein Leben
haben, es sei denn...«
    »Es sei denn, was?«
    Sie flüsterte etwas, was ich
nicht verstand.
    »Was, Lee?«
    Keine Antwort.
    »Es sei denn, Sie demontieren
mein Leben Stück für Stück? Was haben Sie geglaubt, was Ihnen das bringt?«
    »Gehen Sie weg. Bitte, gehen
Sie. Sie haben mich schon schlimm genug verraten, setzen Sie nicht noch eins
drauf.«
    »Ich habe Sie verraten?«
    »Sie haben gesagt, wir bringen
die Zwo-acht-neun zusammen runter, und was ist passiert?«
    Ich starrte sie verdutzt an.
»Lee, wir haben die Maschine runtergebracht. Sie haben am Boden die Kontrolle
verloren.«
    Ihre Augen wurden zu Schlitzen,
und ihre Kiefer preßten sich krampfhaft aufeinander. Ich merkte, daß sie einen
Schrei unterdrückte. Das brave Musterkind bekam einen Vorgeschmack davon, was
sie vor Gericht erwartete; dort würde nichts zählen als die Fakten hinter ihrer
Phantasie.
    Dann öffnete sie den Mund
wieder. »Sharon?« sagte sie mit sanfter Kleinmädchenstimme. »Sie glauben, Sie
wissen alles über mich, aber das stimmt nicht. An dem Tag, als meine Mutter
starb — das war nicht ich.«
    Was kam jetzt? Ich wartete ab.
    »Das war mein Dad. Er hat Mom
das Morphium gegeben, das er gesammelt hatte. Ich hab’s rausgekriegt und wollte
es der Polizei sagen, da hat er mir das Geld gegeben, damit ich den Mund halte
und verschwinde.«
    Nie und nimmer. Die
Unterschlagungen hatten schon lange vor dem Tod ihrer Mutter begonnen — zu
einer Zeit, als Lee die Buchhaltung gemacht hatte. »Sie tun wohl alles, um
Mitleid zu erheischen«, sagte ich. »Sogar ihrem eigenen Vater etwas anhängen,
was Sie getan haben. Sie sind krank, Lee, und ich hoffe, daß Sie im Gefängnis
die Hilfe bekommen, die Sie brauchen, um Ihre Vergangenheit zu verarbeiten und
mit Ihrer Zukunft zurechtzukommen.«
    »Gefängnis!« Die
Kleinmädchenmaske fiel ab, und in ihren Augen loderte wieder Wut. »Sie mieses
Aas!« rief sie.
    »Aha, jetzt kommen wir der
Sache schon näher.« Ich beugte mich über das Fußteil des Betts und sah ihr
direkt in die Augen. »Wollen Sie den Geschworenen nicht auch diese Seite Ihrer
Person zeigen? Macht ohnehin keinen Unterschied mehr: Die Beweislage ist klar.«
    »Das können Sie doch nicht
machen!«
    »Ich kann und werde.« Ich
kehrte ihr den Rücken und marschierte hinaus.
     
    Draußen auf dem Gehweg blieb
ich einen Moment stehen, um diesen herrlich klaren Tag auf mich einwirken zu
lassen — einen von denen, die unsere wilde nördliche Küste zu einem Paradies
machen. Die Sonne sank bereits meerwärts, der Rauch aus den Schornsteinen des
Georgia-Pacific-Sägewerks drunten an der Küste driftete im leisen Wind. Hy war
drüben bei Ace-Eisenwaren, Material für ein paar Reparaturarbeiten kaufen, die
er morgen an unserem Häuschen vornehmen wollte. Ich würde ihn dort treffen, und
dann würden wir uns auf den Weg die Küste abwärts machen und auf unserem
Lieblingsfischmarkt in Mendocino den Tagesfang inspizieren, ehe wir nach Hause
fuhren.
    Unser Zuhause. D’Silva hatte es
entweiht, aber nicht zerstört. An diesem Wochenende würden wir es wieder in
Besitz nehmen.
     
    Jetzt sind es wieder friedliche
Stunden — wenn
alle
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