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Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr
Autoren: Karl-Otto Hondrich
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Angstmacher sprechen deshalb von Deutschland als einer »Republik der Greise«, als ob es sich um eine spezifisch deutsche Verwerflichkeit handele. In Wirklichkeit aber steigt der Anteil der Alten in allen Gesellschaften, auch in Schwellenländern wie Indien, in denen deutlich mehr Kinder geboren werden. Dies hat nämlich wenig mit der Geburtenrate zu tun, umso mehr aber damit, dass die Menschen heute später sterben. Das Älterwerden ist eine großartige Errungenschaft moderner Kultur: eine notwendige Begleiterscheinung von Wohlstand, Bildung, Freiheiten, sozialen Absicherungen, Medizin, Hygiene, Ernährungswissenschaft, ja Wissenschaft schlechthin. Möchten wir auf irgendeine dieser Errungenschaften verzichten; möchten wir die, im Vergleich zu unseren Vorfahren, »gewonnenen Jahre« wieder verlieren? Lieber jung sterben, als alt werden? Wer selbst ein langes Leben führen möchte, sollte aufhören |14| , Vergreisung wie einen Vorwurf zu behandeln, den man der Gesellschaft oder einer Gruppe in ihr, zum Beispiel kinderlosen jüngeren Menschen, in die Schuhe schieben kann.
    »Wie schauerlich, überall alte Leute!« Der entsetzte Ausdruck vorausschauender Gefühle ist verständlich. Aber so wird es nicht kommen. Die ganze Tristesse des Alters wird uns (den jüngeren Menschen) auch in Zukunft nicht ins Auge fallen. Die hinfällig-bejammernswerten ganz Alten meiden die Öffentlichkeit. Die jüngeren Alten werden eher durch ihre Rüstigkeit auffallen. Dass sich die Alterspyramide insgesamt ändert, wird niemanden, ob jung oder alt, erschrecken; denn alle nehmen an dem allmählichen Prozess gewohnheitsgemäß teil – es sei denn, professionelle Schreckensverbreiter und -profiteure nehmen sich der Sache an.
    Intuitiv vermuten wir, dass eine Gesellschaft mit vielen altgebrechlichen Menschen ihrerseits alt und gebrechlich sei; dass sie, ebenso wie die Greise, nicht mehr lange zu leben habe. Aber Individuen und Gesellschaft sind zwei völlig unterschiedliche Paar Schuhe. Über die durchschnittliche Lebensdauer von Individuen wissen wir inzwischen genau Bescheid; über die Lebensdauer von Gesellschaften wissen wir nichts. Ein Mensch in Deutschland wird heute normalerweise fast 80 Jahre alt; wie alt aber wird, »normalerweise«, die deutsche Gesellschaft? Dass sie eine Gesellschaft mit immer mehr Alten sein wird, heißt nicht, dass sie eine alte Gesellschaft wird. Die Individuen, die sie hervorbringt, sind ein relativ neuer Typus Mensch, den es in früheren Gesellschaften kaum gab.
    Erst in einer Gesellschaft mit langer Lebensdauer für den Einzelnen kann sich das Individuum als moderner Typus Mensch entfalten. Aber auch als gesellschaftlicher Typus ist die Gesellschaft der Alten jung und neu. Das Alter ihrer Individuen übersetzt sie gleichsam in kollektive Jugendlichkeit. Denn moderne Gesellschaften sind insofern jugendlicher und innovativer als alte, als sich ihre innere Gliederung und äußere Ausdehnung stärker verändern. Im Innern bilden sich für jede Aufgabe oder jedes |15| Problem soziale Subsysteme mit gesteigerter Problemlösungsfähigkeit heraus. Nach außen verschieben sie ihre Grenzen über nationale Rahmen hinaus und vergrößern so ebenfalls ihre Fähigkeit, Auswege für Probleme zu finden. Das Beispiel Aids zeigt, wie die europäische Gesellschaft der Alten ein neues Problem in den Griff bekommt, an dem in Afrika die Gesellschaft der Jungen tragischerweise zu scheitern droht. Wie um das Fehlen qualitativ adäquater Problemlösungen zu kompensieren, bäumen sich die Kulturen Schwarzafrikas in einer verzweifelten quantitativen Anstrengung auf: Sie, die von Aids am stärksten betroffen sind, weisen die weltweit höchsten Geburtenraten auf.
    Die Alarmistenvision der kinderlosen Gesellschaft
    So wenig die Vergreisung von Individuen und Gesellschaften durch den Fall der Geburtenrate verursacht ist, so sehr verursacht andererseits der steigende Altenanteil diesen Fall!
    Langes Leben bedeutet, dass Probleme der Armut, der Unsicherheit, des Unwissens, der Krankheit gelöst wurden – viel erfolgreicher jedenfalls als vor 150 Jahren, als die Menschen in Deutschland nur halb so alt wurden, aber doppelt und dreimal so viele Kinder bekamen wie heute. Würden noch genau so viele Kinder geboren wie damals, dann wäre nicht nur Deutschland, sondern die Welt heute heillos übervölkert. Der Rückgang der Geburtenziffern ist also eine Lösung für das Problem der Überbevölkerung. Weit entfernt davon, gesellschaftliche
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