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Welskopf-Henrich, Liselotte - Das Blut des Adlers 4 - Der siebenstufige Berg

Welskopf-Henrich, Liselotte - Das Blut des Adlers 4 - Der siebenstufige Berg

Titel: Welskopf-Henrich, Liselotte - Das Blut des Adlers 4 - Der siebenstufige Berg
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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Inspektion durch die Schulrätin des Area Office stand bevor. Hugh war damit beschäftigt, seinen Zöglingen das Gelöbnis zu Flagge und Regierung beizubringen, das jedes Kind, daher auch jedes Indianerkind auswendig können mußte. Ihrem sonstigen Verhalten zu ihrem Erzieher entgegengesetzt, blieben die Kinder dabei zerstreut, interesselos, obstinat; hin und wieder legte eines die Hände über die Augen, als wolle es seine weglaufenden Gedanken verbergen. Es gelang Hugh nicht, die Aufmerksamkeit der Kinder auf die Tafel zu konzentrieren, auf der er die ersten beiden Zeilen des langen Gelöbnisses in großen Buchstaben angeschrieben hatte. Auch die Zwillinge Harry und Mary King, die sich zwar immer unwissend gestellt hatten, um ihre Mitschüler nicht zu beschämen, aber auch immer ruhig und gehorsam gewesen waren, verhielten sich in dieser Stunde disziplinlos. Sie standen nicht gerade, und sie legten die rechte Hand nicht aufs Herz, wie es beim Aufsagen des Gelöbnisses vorgeschrieben war. Hugh erinnerte sich nur allzugut seiner eigenen Schwierigkeiten als Kind. Zwei Jahre lang hatte er sich geweigert, aufzusagen »I pledge allegiance…« Die Lehrer hatten ihn schwer bestraft. Er war damals in ein altes Internat gebracht worden, in dem die ursprüngliche grausame Zucht gegen Indianerkinder noch nicht abgebaut war. Die Erzieher hatten ihn an den geheizten eisernen Ofen gedrängt, bis er Brandwunden davontrug; sie hatten ihm einen Gummistrumpf über das Gesicht gezogen, so daß er kaum mehr zu atmen vermochte, und sie hatten ihn vor den anderen Schülern mit dem großen Stock geprügelt. Wochenlang hatte ihn der Rücken geschmerzt. Hugh hatte nie aufgeschrien und nicht geweint. Diese Genugtuung, die die Lehrer erstrebten, sollten sie nicht haben. Aber der Haß und die Verzweiflung hatten so in ihm gezittert, daß auch seine Hand beim Schreiben zitterte. Er konnte von Glück sagen, daß er noch seine beiden Ohren besaß; es hatte nicht viel gefehlt, daß ihm das eine abgerissen wurde, denn ein Lehrer liebte es, daran zu reißen, und er hatte kräftige Hände; in seinem Griff wohnte mehr Kraft als Vernunft in seinem Gehirn. Nach zwei Jahren war es geschafft gewesen; Hugh Mahan hatte gerade gestanden, die Hand aufs Herz gelegt und gesagt: »I pledge allegiance…«, aber wem er dabei in Wahrheit Treue gelobte, das wußten die Lehrer nicht.
    Jetzt stand er da, um seine Zöglinge dazu zu bringen, daß sie sich unterwarfen und gelobten. Sein Gesicht hatte in dieser Stunde noch schärfere Züge angenommen, und er glühte, vielleicht vor heißer Scham. Aber zähe und leise wiederholte er: »I pledge allegiance…« und dazu die Erläuterung, die die Schulverwaltung hatte drucken lassen: »I promise to be true…« Das letzte sagten die Kinder, aber weiter kamen sie nicht.
    Vor der Tür waren Stimmen zu hören. Hugh Mahan war auf das Versagen der Kinder und eine böse Kritik der Schulrätin gefaßt. Es war ihm in diesem Augenblick unglaublich gleichgültig, was geschehen würde, sofern es ihn selbst betraf. Er konnte in der Hütte der Mutter von Arbeitslosenunterstützung leben oder trampen gehen, wenn ihn die Schulverwaltung nicht mehr haben wollte. Nur um die Kinder, die wie Sklaven ausgeliefert waren, würde es ihm leid sein.
    Die Tür öffnete sich. Lehrer Ball und die Schulrätin erschienen. Hugh teilte die Menschen gern nach Tierarten ein. Die Schulrätin erschien ihm als eine bejahrte Ziege, die keine Milch mehr gab und zu stoßen gewohnt war, also schlachtreif; Ball, einem Kragenbären ähnlich, war ungleich sympathischer.
    Der Erzieher Mahan wurde aufgefordert, seine Zöglinge das Gelöbnis aufsagen zu lassen; genau das hatte er mit einem fünfzehn Jahre hindurch entwickelten und untrüglich gewordenen Instinkt erwartet.
    »I promise to be true…« Der Chor der sechzehn klang bei diesem Satz sicher und laut. Die Stimmen der Zwillinge führten. In der dann eintretenden gefährlichen Kunstpause erschien überraschend Rektor Snider. Es machte den Eindruck, daß seine kurz geschnittenen braunen Haare gerade in die Höhe standen wie gesträubte Federn. Der Chor der sechzehn blieb endgültig stumm, ohne daß jemand hiervon Notiz nahm. Die Aufmerksamkeit der bejahrten Ziege hatte sich dem Rektor zugewandt.
    Snider bat um Verzeihung, daß er Unterricht und Inspektion störe. Ein furchtbarer Vorfall ereignete sich soeben in der 9. Klasse. Der Schüler Byron Bighorn habe einen schweren epileptischen Anfall, die Mitschüler
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