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Weites wildes Land

Titel: Weites wildes Land
Autoren: Shaw Patricia
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direkt vor ihnen durchs Wasser zog. Und dann schrie der Mann auf. Es war ein markerschütternder Schmerzensschrei, der fast im gleichen Moment wieder abbrach, als der Mann die Arme hochriß und in der Tiefe versank. An der Stelle, wo das Meer ihn verschlungen hatte, färbte sich das Wasser blutrot. Voll Entsetzen stellte Sibell sich vor, wie ihre armen Eltern vielleicht in diesem Augenblick auch Opfer der Haie wurden. Völlig außer sich stieß sie schrille Schreie aus, bis ihr jemand ins Gesicht schlug. »Halt den Mund«, fuhr ein Mann sie an. »Mit dir hat man nichts als Ärger.« »Aber mein Vater und meine Mutter«, schluchzte sie. »Vielleicht schwimmen sie auch im Meer. Wir müssen sie suchen.« Auf einmal packte eine völlig durchnäßte Frau mit verzerrtem Gesicht Sibell beim Haar. »Sie haben meine Kinder«, kreischte sie mit wirrem Blick. »Geben Sie sie heraus!« Die Männer rissen sie von Sibell los und schoben sie zum Bootsheck, wo sie sich zwischen zwei ältere Ehepaare hockte, die nur wie durch ein Wunder den Weg zum Rettungsboot gefunden haben konnten. Zu ihren Füßen lag stöhnend ein Mann, der seine Hand auf eine klaffende Wunde an der Brust preßte. Aber niemand schien sich um ihn zu kümmern; zuerst einmal wurde einer Frau der gebrochene Arm mit einem Stoffetzen an den Körper gebunden. Sibell, die noch immer nicht ganz begriff, wie sie in dieses Boot gekommen war, starrte ihre Leidensgenossen nur entsetzt an. Beim ersten Sonnenlicht lichtete sich der Schleier, der über dieser trostlosen Szenerie lag. Sibell rieb sich die Augen; sie hoffte, daß das alles nur ein schrecklicher Alptraum gewesen war. Sicher würde die vertraute Silhouette der Cambridge Star am Horizont zu sehen sein, wenn sie den Blick hob. Doch der Horizont lag verlassen da, und die Wrackteile des untergegangenen Schiffs, die auf dem Wasser trieben, bestätigten unmißverständlich die traurige Wahrheit. Und weit und breit kein anderes Ruderboot! Als sie sich der Küste näherten, runzelten die vier Ruderer die Stirn. »Hörst du es auch?« fragte einer. In seiner Stimme schwang ganz deutlich Furcht mit. Sibell verstand nicht, worum sie sich Sorgen machten. Sie vernahm lediglich das beruhigende Geräusch der Brandung und das Knirschen des Sands, wie sie es von den Familienferien in Devonshire her kannte. Damals hatte sie es immer romantisch gefunden, doch nun war es nicht mehr als eine kurze Unterbrechung des Alptraums, der sie in diesem Rettungsboot gefangen hielt. Doch die peinigenden Ängste machten sich rasch wieder bemerkbar: Hatten ihre Eltern überlebt? Und was war mit den beiden Dienstboten Daisy und Tom und den beiden Schafhütern, Vater und Sohn? Wo waren sie? Während die Ruderer die Lage besprachen, hatten sich die anderen Passagiere reglos im grellen Sonnenlicht ausgebreitet. Sibell ahnte zwar, daß etwas nicht in Ordnung war, aber sie konnte sich nicht vorstellen, was ihnen jetzt noch zustoßen sollte. Sie beugte sich vor und tippte einem der Männer auf die Schulter. »Sind dort Haie?« fragte sie. »Nicht, wenn du im Boot bleibst«, sagte der Mann mit einem finsteren Grinsen, das ihr angst machte. Immer deutlicher zeichnete sich vor ihnen die Küstenlinie ab. Sibell betrachtete den langen, weißen Strand, der vor dem ockerfarbenen Hinterland aussah wie ein Teppich, den jemand ausgebreitet hatte, um sie willkommen zu heißen. Hier und da erkannte sie einzelne Flecken von Grün. Das Tosen der Brandung wurde immer lauter. »Ich kann nicht schwimmen«, sagte einer der Männer. »Das macht nichts«, meinte ein anderer düster. »Wir müssen sehen, daß wir den Kahn ans Ufer bringen.« Sie ließen die Ruder jetzt locker in den Riemen hängen, so daß sie auf der Strömung schaukelten. Ein Mann mit schwarzem Kraushaar und dunklem Bart beschattete die Augen mit der Hand. »Allmächtiger!« murmelte er, als er den Blick von Norden nach Süden den Strand entlanggleiten ließ. »Diese Brecher sind gefährlich. Wir müssen hier weg.« »Und wo sollen wir hin?« fragte ein anderer. »Das ist der längste Strand, den ich je gesehen habe. Er nimmt einfach kein Ende. Aber wir können nicht endlos weiterrudern, und wir haben kein Wasser mehr. Wenn du mich fragst, dann sollten wir's riskieren.« Der bärtige Mann blickte sich beunruhigt zu den Passagieren um. »Und was ist, wenn sie uns über Bord gehen? Sie würden es nicht überleben.« Die Wellen, die sich vor ihnen überschlugen, waren wie ein beständiges Donnergrollen. Einer
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