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Weites Land der Träume

Titel: Weites Land der Träume
Autoren: Anne McCoullagh Rennie
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nachvollziehen, was Verlust bedeutete, denn ihr einziger Sohn war bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen. Sie waren sehr großzügig, gütig und verständnisvoll gewesen, und da sie wussten, wie wichtig es war, der Trauer Raum zu geben, hatten sie Thomas und seine Kinder nach dem Abendessen allein gelassen.
    Für Alice war es, als verschwänden die Ereignisse der letzten Woche hinter einem Nebel. Am Anfang hatten die Versorgung mit Lebensmitteln und Schlafgelegenheiten und die Suche nach Vermissten so im Vordergrund gestanden, dass kaum Zeit zum Nachdenken geblieben war. Selbst die Beerdigung von ihrer Mutter und Timmy drei Tage nach dem Feuer nahm sie nur verschwommen wahr, und sie verbrachte ihre Tage schweigend und unter Schock.
    Doch als sie nun in der drückenden Sommerhitze auf der Veranda einer fremden Familie saß, traf sie die entsetzliche Gewissheit mit übermächtiger Wucht. Ihre Mutter und Timmy waren fort. Es würde nie mehr Brot mit Wildhonig bei Sonnenschein geben. Nie wieder würde sie das pechschwarze Haar ihrer Mutter streicheln oder ihrer sanften Stimme lauschen können. Nie wieder würde sie den kleinen Timmy auf dem Arm halten oder in den Augen ihrer Mutter ein liebevolles Lächeln aufblitzen sehen. Nun würde sie ihr nicht mehr erzählen können, dass sie den Preis gewonnen hatte. Nie wieder würde sie mit ihr darüber sprechen, was Bildung bedeutete. Traurig blickten ihre Augen aus ihrem bleichen jungen Gesicht ihren Vater an.
    »Warum, Daddy? Warum mussten sie sterben?«, fragte Alice, und Tränen glitzerten in ihren Augen.
    »Das weiß ich nicht, Prinzessin«, erwiderte Thomas seufzend. Aus seinem Blick sprach große Traurigkeit.
    Alice ahnte nicht, dass er sich als Versager fühlte, wenn er seine kleine Tochter betrachtete, die seiner geliebten Frau so sehr ähnelte. Doch sie sah, dass er genauso litt wie sie. Alice konnte die Trauer in ihrem Herzen und den Schmerz ihres Vaters nicht ertragen. Als sie zu ihm hinüberging, legte er die Arme um sie, und sie schluchzte herzzerreißend. Auch Ben klammerte sich, verwirrt und verloren, an seinen Vater.
    Thomas drückte seine Kinder an sich, und sie trösteten einander, auch wenn jeder seinen eigenen Gedanken nachhing. Während er Alices seidiges Haar streichelte, fragte er sich, wie er dieses unbeschreibliche Leid nur verwinden sollte. Kurz konnte er das grüne Gras im Frühjahr sehen, und Mary Ellens blaue Augen, die denen von Alice so ähnlich waren und aus ihrem freudestrahlenden Gesicht leuchteten. So hatte sie ihn stets bei seiner Rückkehr empfangen, und so wollte er sie in Erinnerung behalten. Sie hatte so viel Lebenslust gehabt. Bei seinem letzten Besuch zu Hause war der kleine Timmy gerade erst achtzehn Monate alt gewesen. Er hatte ihn nur drei Monate seines kurzen Lebens gekannt. Nun war er tot. Thomas hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Als sie bei der Überschwemmung vor zwei Jahren die Hälfte ihrer Schafe verloren hatten, hatte Mary Ellen ihm den Rücken gestärkt. Sie hatte sich nicht beklagt, als er vom Schafescheren nur mit Auszeichnungen und Versprechungen zurückgekehrt war. Nie hatte sie ihm Vorhaltungen gemacht, weil er beruflich keinen Erfolg hatte.
    »Wir fangen wieder von vorne an«, pflegte sie zu sagen, und ihre Kraft hatte ihm jedes Mal den Mut gegeben, es noch einmal zu versuchen. Stets hatte sie ein offenes Ohr für seine Träume gehabt, ganz gleich, wie versponnen und wirklichkeitsfremd sie auch sein mochten und wie oft er seine Pläne wieder verworfen hatte. Nun war sie fort, und er hatte niemanden mehr zum Träumen. Doch diesmal, so nahm er sich fest vor, würde er Mary Ellen nicht enttäuschen. Diesmal würde er selbst die Kraft für einen Neuanfang aufbringen. Aber als er die Augen öffnete, verließ ihn erneut der Mut, und er wusste, dass er ihr Zuhause nie wieder aufbauen konnte, nicht an einem Ort, der ihn jeden Tag daran erinnern würde, was er verloren hatte – daran, dass die Frau, die ihm das Wichtigte auf der Welt gewesen war, nicht mehr lebte.
    »Was machen wir denn jetzt, Daddy?«, riss ihn Alices traurige Stimme aus seinen gequälten Grübeleien.
    Thomas spürte ihren erwartungsvollen Blick. Ab jetzt war er allein für diese beiden wundervollen Kinder verantwortlich. Sie waren das Vermächtnis seiner Liebe zu Mary Ellen. Allerdings wurde ihm schon im nächsten Moment klar, dass die Last zu schwer für ihn war. Er fühlte sich völlig überfordert. Und als er ihre beiden kleinen,
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