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Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Autoren: Dave Eggers
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Geräte waren gebraucht, die meisten waren neu, und alle waren anonym gestiftet worden. Sie anzusehen, tagtäglich zu benutzen ließ mich erschauern – ein eigentümliches, aber echtes körperliches Gefühl der Dankbarkeit. Und jetzt vermute ich, dass mir all diese Geschenke in den kommenden Minuten genommen werden sollen. Ich stehe vor Puder, und mein Gedächtnis sucht nach dem letzten Mal, als ich mich so verraten fühlte, mich einem so gleichgültigen Bösen gegenübersah.
    Während er mit einer Hand noch immer den Griff der Pistole umfasst hält, legt er mir die andere Hand auf die Brust. »Jetzt setz dich einfach auf deinen Arsch und schau zu.«
    Ich mache zwei Schritte rückwärts und setze mich auf die Couch, ebenfalls ein Geschenk der Kirche. Eine pausbäckige Weiße in einem Batikhemd brachte sie an dem Tag, als Achor Achor und ich einzogen. Sie entschuldigte sich dafür, dass sie nicht schon vor unserer Ankunft geliefert worden war. Die Leute von der Kirche neigten dazu, sich oft zu entschuldigen.
    Ich starre zu Puder hoch, und ich weiß, an wen er mich erinnert. Die Soldatin, eine Äthiopierin, erschoss zwei meiner Gefährten und hätte auch mich beinahe getötet. Sie hatte das gleiche wilde Funkeln in den Augen und gab sich zunächst als unsere Retterin aus. Wir waren auf der Flucht aus Äthiopien, verfolgt von Hunderten äthiopischen Soldaten, die auf uns schossen, der Fluss Gilo war voll mit unserem Blut, da tauchte sie aus dem hohen Gras auf. Kommt her zu mir, Kinder! Ich bin eure Mutter! Kommt her. Sie war nur ein Gesicht im grauen Gras und hatte die Hände ausgestreckt, ich zögerte. Zwei der Jungen, die mit mir zusammen flohen, Jungs, auf die ich am Ufer des blutigen Flusses gestoßen war, gingen auf sie zu. Und als sie nah genug waren, hob sie ein Sturmgewehr und schoss den Jungen in Brust und Bauch. Sie fielen vor mir zu Boden, und ich drehte mich um und rannte. Komm zurück!, rief sie. Komm zu deiner Mutter!
    Ich rannte an dem Tag weiter durch das Gras, bis ich Achor Achor fand, und zusammen mit Achor Achor fanden wir das Stille Baby, und wir retteten das Stille Baby, und eine Zeit lang hielten wir uns für Ärzte. Das ist so viele Jahre her. Ich war zehn oder elf. Das weiß niemand. Der Mann vor mir, Puder, wird so etwas nie erlebt haben. Es würde ihn auch nicht interessieren. Die Erinnerung an den Tag, als wir aus Äthiopien zurück in den Sudan getrieben wurden, Tausende Tote im Fluss, gibt mir Kraft gegen diesen Menschen in meiner Wohnung, und wieder stehe ich auf.
    Der Mann sieht mich jetzt an, wie ein Vater, der gleich zu seinem eigenen Bedauern etwas tun muss, das sein Kind ihn zu tun zwingt. Er kommt mir so nahe, dass ich irgendetwas Chemisches an ihm riechen kann, wie Bleichmittel.
    »Bist du … Bist du …?« Er presst die Lippen zusammen und verstummt. Er zieht die Pistole aus dem Gürtel und reißt sie mit einer Rückhandbewegung nach oben. Ich sehe etwas Schwarzes, und dann knirschen meine Zähne aufeinander, und die Decke kommt auf mich zu.
    Ich bin in meinem Leben schon auf viele verschiedene Arten geschlagen worden, aber noch nie mit einem Pistolenlauf. Ich kann mich glücklich schätzen, mehr Leiden gesehen als am eigenen Leib erfahren zu haben, aber immerhin, man hat mich hungern lassen, mit Stöcken geschlagen, mit Ruten, mit Besen und Steinen und Speeren. Ich bin fünf Meilen auf einem Lkw voller Leichen mitgefahren. Ich habe zu viele kleine Jungen in der Wüste sterben sehen, manche, als legten sie sich hin, um ein wenig zu schlafen, manche nach tagelangem Wahnsinn. Ich habe gesehen, wie drei Jungen von Löwen angefallen und gefressen wurden. Ich war dabei, als das Tier sie riss, in den Fängen davonschleppte und im hohen Gras verschlang, ich war so nah dran, dass ich das nasse, klatschende Geräusch von reißendem Fleisch hören konnte. Ich habe gesehen, wie ein guter Freund neben mir in einem umgekippten Lastwagen starb, die Augen auf mich gerichtet, während sein Leben aus einem Loch entwich, das ich nicht sehen konnte. Und doch, in diesem Augenblick, während ich quer über die Couch kippe und meine Hand nass von Blut ist, merke ich, dass ich ganz Afrika vermisse. Ich vermisse den Sudan, vermisse die heulende graue Wüste im Nordwesten Kenias. Ich vermisse die gelbe Leere Äthiopiens.
    Von meinem Angreifer sehe ich nur noch den Bereich um seine Taille, seine Hände. Er hat die Waffe weggesteckt, und jetzt sind seine Hände an meinem Hemd und meinem Hals, und er reißt
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