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Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Autoren: Dave Eggers
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mich von der Couch Richtung Teppich. Auf dem Weg nach unten schlägt mein Hinterkopf gegen den Beistelltisch, und zwei Gläser und ein Radiowecker gehen mit mir zu Boden. Auf dem Teppich angekommen, wo meine Wange in ihrer eigenen Blutlache liegt, erlebe ich einen Moment des Wohlgefühls und denke, dass er höchstwahrscheinlich fertig ist. Schon werde ich müde. Ich habe das Gefühl, als könnte ich die Augen schließen und das alles hinter mir lassen.
    »Und jetzt halt die Schnauze«, sagt er.
    Diese Worte klingen nicht überzeugend, und das tröstet mich. Er ist kein zorniger Mann, das wird mir klar. Er hat nicht vor, mich zu töten. Vielleicht ist er von dieser Frau manipuliert worden, die jetzt die Schubladen und Schranktüren in meinem Schlafzimmer öffnet. Sie scheint das Sagen zu haben. Sie kümmert sich um die Sachen in meinem Zimmer, und ihr Gefährte hat die Aufgabe, mich ruhig zu stellen. So einfach ist das, und er hat anscheinend kein Interesse daran, mir noch weiteren Schaden zuzufügen. Daher ruhe ich mich aus. Ich schließe die Augen und ruhe mich aus.
    Ich bin dieses Land leid. Ich bin ihm dankbar, ja, in den drei Jahren, die ich nun hier bin, habe ich vieles daran schätzen gelernt, aber ich bin der Versprechen müde. Ich kam hierher, viertausend von uns kamen hierher, und wir erhofften und erwarteten Ruhe. Frieden, eine Ausbildung und Sicherheit. Wir erwarteten ein Land ohne Krieg und wohl auch ein Land ohne Elend. Wir waren aufgedreht und ungeduldig. Wir wollten alles sofort – ein Zuhause, Familie, Studium, die Möglichkeit, Geld in die Heimat zu schicken, einen Collegeabschluss und endlich etwas Einfluss. Doch für die meisten von uns hat die endlose Übergangszeit – nach fünf Jahren habe ich noch immer nicht die erforderlichen Punkte zusammen, um mich an einem regulären College zu bewerben – katastrophale Folgen gehabt. Wir hatten zehn Jahre in Kakuma gewartet, und ich vermute, wir wollten hier nicht wieder damit anfangen. Wir wollten den nächsten Schritt tun, und zwar schnell. Doch es kam anders, zumindest in den meisten Fällen, und wir haben Möglichkeiten gefunden, uns die Zeit zu vertreiben. Ich habe schon zu viele Aushilfsjobs gehabt, und zurzeit arbeite ich in der frühestmöglichen Schicht am Empfang eines Fitnessklubs, wo ich die Mitglieder begrüße und möglichen Neumitgliedern die Vorzüge des Klubs erkläre. Das ist nichts Aufregendes, aber es bringt eine gewisse Stabilität mit sich, wie sie manche gar nicht kennen. Zu viele sind abgestürzt, zu viele haben das Gefühl, gescheitert zu sein. Der Druck, der auf uns lastet, die Versprechen, die wir uns selbst gegenüber nicht halten können – diese Dinge machen aus zu vielen von uns Ungeheuer. Und der einzige Mensch, von dem ich überzeugt war, er könne mir helfen, die Enttäuschungen und die Banalität des Ganzen zu überwinden, eine mustergültige Sudanesin namens Tabitha Duany Aker, ist nicht mehr.
    Jetzt sind sie in der Küche. Jetzt in Achor Achors Zimmer. Während ich hier liege, überlege ich, was sie mir wegnehmen können. Erleichtert fällt mir ein, dass mein Computer im Auto ist und verschont bleiben wird. Aber Achor Achors neuen Laptop werden sie mitnehmen. Und es wird meine Schuld sein. Achor Achor ist einer der führenden jungen Flüchtlinge hier in Atlanta, und ich fürchte, alles, was er braucht, wird mit seinem Computer verloren gehen. Die Protokolle der vielen Besprechungen, die Finanzen, Tausende E-Mails. Ich kann nicht zulassen, dass das alles gestohlen wird. Achor Achor ist seit Äthiopien an meiner Seite, und ich bringe ihm immer nur Unglück.
    In Äthiopien blickte ich in die Augen eines Löwen. Ich war vielleicht zehn Jahre alt, und man hatte mich in den Wald geschickt, um Holz zu sammeln, und das Tier kam langsam hinter einem Baum hervor. Ich blieb einen Moment stehen, eine Ewigkeit, lange genug, um mir seine Fratze mit den toten Augen einzuprägen, ehe ich fortlief. Er brüllte hinter mir her, aber er verfolgte mich nicht. Ich würde gern glauben, dass er mich für einen zu gefährlichen Gegner hielt. Ich habe also diesem Löwen in die Augen geschaut, ich habe zahllose Male in die Gewehrläufe von bewaffneten arabischen Reitermilizen geschaut, deren weiße Gewänder in der Sonne leuchteten. Und deshalb werde ich es schaffen, ich werde diesen unbedeutenden Überfall aufhalten. Ich stemme mich noch einmal auf die Knie.
    »Runter mit dir, du Arschloch!«
    Und erneut schlägt mein Gesicht auf den Boden.
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