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Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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was wir nie haben würden, ebenso wie die Tatsache, dass es immer Kasten innerhalb von Kasten geben würde, dass auch innerhalb von Gruppen flüchtender Jungen immer noch Hierarchien bestanden. Dennoch sind sich die Berichte der Lost Boys im Laufe der Jahre erstaunlich ähnlich geworden. Jeder erzählt von Attacken durch Löwen, Hyänen, Krokodile. Alle waren Zeuge von Angriffen durch die Murahilin, von der Regierung finanzierte Reitermilizen, von Bombardierungen durch Antonovs und von Sklavenraub. Aber nicht alle haben dasselbe erlebt. Als die Fluchtwelle vom Südsudan nach Äthiopien ihren Höhepunkt erreichte, waren wir schätzungsweise zwanzigtausend, mit ganz unterschiedlichen Routen. Manche kamen mit ihren Eltern. Andere mit Rebellensoldaten. Ein paar Tausend waren allein unterwegs. Doch heute erwarten Sponsoren, Zeitungsreporter und andere, dass die Geschichten bestimmte Elemente enthalten, und die Lost Boys sind nur allzu bereit, diese Erwartungen zu erfüllen. Überlebende erzählen ihre Geschichten so, wie sie das mitfühlende Publikum erwartet, und das heißt möglichst schockierend. Selbst meine eigene Geschichte ist so voller kleiner Ausschmückungen, dass ich die Darstellung anderer kaum kritisieren darf.
    Meine Freunde Tonya und Puder wissen nichts über mich, und ich frage mich, ob sie ihr Vorgehen gegen mich ändern würden, wenn sie von meinem Weg bis hierher wüssten. Ich rechne allerdings nicht damit.
    Sie sind wieder am Fenster, alle beide, und verfluchen den Polizisten. Ich vermute, dass inzwischen nicht mehr als neunzig Minuten vergangen sind, aber es ist trotzdem unerklärlich. Noch nie habe ich erlebt, dass sich ein Polizeibeamter länger als ein paar Minuten auf dem Parkplatz der Wohnanlage aufgehalten hat. Hier ist schon einmal eingebrochen worden, aber es war niemand zu Hause, und die Sache geriet schnell in Vergessenheit. Dieser Raub, der noch im Gange ist, und der lange Aufenthalt des Polizisten – das erscheint mir unlogisch.
    Tonya stößt einen Schrei aus.
    »Verschwinde, du Scheißbulle, verschwinde!«
    Puder steigt auf einen Küchenstuhl, schiebt den Vorhang etwas beiseite.
    »Ja, fahr weiter! Los, du Wichser!«
    Ich bin enttäuscht, aber andererseits, wenn der Officer wirklich wegfährt, bedeutet das vielleicht den baldigen Abschied meiner beiden Gäste. Jetzt lachen sie.
    »Oh Mann, ich dachte schon, der …«
    »Ich weiß! Der war …«
    Sie hören gar nicht mehr auf zu lachen. Tonya stößt ein Jubelgeheul aus.
    Jetzt geraten sie in Eile. Wieder stapelt Tonya die Stereoanlage, den Videorekorder und die Mikrowelle auf Puders Arme, und erneut geht er zur Tür. Sie hält sie für ihn auf, und einen Moment lang fürchte ich, dass der Cop ihnen tatsächlich irgendeine Falle gestellt hat und seine Abfahrt nur vorgetäuscht war. Vielleicht wartet er gleich um die Ecke? Das könnte zur Verhaftung der beiden führen, aber auch zu einer längeren Pattsituation, einer Geiselnahme, mehr Waffen. Ich ertappe mich absurderweise bei dem Gedanken, dass ich hoffe, der Polizeibeamte sei fort und die beiden würden ebenso schnell verschwinden.
    Und etwa zehn Minuten lang sieht es so aus, als würden sie das tun. Im Schutz der Dunkelheit werden sie unverfrorener – sie müssen zweimal gehen, um alle Wertgegenstände aus der Wohnung zum Auto zu schaffen. Und jetzt stehen sie über mir.
    »Tja, Afrika, ich hoffe, das war dir eine Lehre«, sagt Tonya.
    »Danke für deine Gastfreundschaft, Bruder«, fügt Puder hinzu.
    Die Aussicht auf ihre ungestörte, unmittelbar bevorstehende Flucht versetzt sie in einen ausgelassenen Zustand. Puder geht auf die Knie, stöpselt den Fernseher aus.
    »Geht’s?«, fragt Tonya.
    »Ich hab’s«, antwortet er und hebt das Gerät mit einem Ächzen aus dem Regal. Es ist ein großer Fernseher, ein älteres Modell, wuchtig wie ein Amboss, mit Neunzehn-Zoll-Bildschirm. Tonya hält ihm die Tür auf, und Puder geht rückwärts nach draußen. Sie sagen nichts zu mir. Sie sind weg, und die Tür ist zu.
    Ungläubig verharre ich noch einen Moment auf dem Boden. Die Atmosphäre in der Wohnung wirkt jetzt ungewohnt. Eine Zeit lang ist es jetzt, wo sie fort sind, seltsamer, als es mit ihnen war.
    Ich setze mich auf. Ich komme langsam auf die Beine, und der Schmerz in meinem Kopf jagt weiße Hitzestrahlen über meinen Rücken. Ich taumele in mein Schlafzimmer, um nachzusehen, wie groß der Schaden dort ist. Es sieht noch ungefähr so aus wie vorher, nur dass meine Kamera fehlt, das

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