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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander
Autoren: Janet Fitch
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Zeitschriften nachzugehen. Er sagte ihre Verabredungen ab. Meine Mutter konnte nicht schlafen; sie fuhr jedes Mal hoch, wenn das Telefon klingelte. Es war schrecklich, ihren Gesichtsausdruck zu sehen, wenn es nicht Barry war. Ein Tonfall, den ich noch nie an ihr gehört hatte, schlich sich in ihre Stimme ein, scharf gezackt wie ein Sägeblatt.
    Ich verstand nicht, wie das passieren konnte, wie er uns Feuerwerke und Catalina schenken konnte, wie er meine Stirn mit dem Taschentuch kühlen und darüber reden konnte, mit uns nach Bali zu reisen – und dann unsere Adresse vergaß.
    Eines Nachmittags hielten wir unangekündigt vor seinem Haus.
    »Er wird total sauer sein!«, sagte ich.
    »Wir waren gerade in der Nachbarschaft. Dachten uns, wir schauen mal vorbei«, sagte meine Mutter.
    Ich konnte sie ebenso wenig von ihrem Vorhaben abhalten, wie ich die Sonne davon abhalten konnte, an einem Augustmorgen aus dem heißen Smog aufzutauchen, doch ich wollte wenigstens nicht dabei zusehen. Ich wartete im Auto. Sie klopfte an die Tür, und er öffnete, gekleidet in einen Seersucker-Bademantel. Ich brauchte sie gar nicht zu hören, um zu wissen, was sie sagte. Sie trug ihr blaues Gazekleid, der heiße Wind kräuselte den Rocksaum, und die Sonne, die ihr im Rücken stand, ließ es durchsichtig wirken. Er lehnte im Türrahmen und versperrte den Eingang; sie neigte den Kopf zur Seite, trat näher, fasste sich ins Haar. Ich fühlte, wie sich ein Gummiband in meinem Hirn dehnte, weiter und weiter, bis sie schließlich in seinem Haus verschwanden.
    Ich ließ das Radio laufen, klassische Musik. Ich konnte es nicht ertragen, irgendetwas zu hören, in dem Worte vorkamen. Ich stellte mir vor, wie ich mit meinen eigenen eisblauen Augen einen Mann anblickte und ihm sagte, er solle verschwinden, ich sei beschäftigt. »Du bist nicht mein Typ!«, sagte ich kühl zum Rückspiegel.
    Eine halbe Stunde später tauchte sie wieder auf, stolperte zum Auto und fiel dabei fast über einen Rasensprenger, als ob sie blind wäre. Sie stieg ein, setzte sich hinter das Lenkrad und wiegte sich vor und zurück; ihr Mund war zu einem Rechteck geöffnet, doch kein Ton kam heraus. Meine Mutter weinte. Das Unvorstellbare war geschehen.
    »Er hat eine Verabredung«, flüsterte sie schließlich mit einer Stimme, als hielten zwei Hände ihre Kehle umklammert. »Er hat mit mir geschlafen und mir dann gesagt, dass ich verschwinden muss. Weil er eine Verabredung hat.«
    Ich wusste, wir hätten nicht kommen dürfen. Nun wünschte ich, dass sie ihre Grundsätze nie gebrochen hätte. Ich verstand, weshalb sie so eisern an ihnen festgehalten hatte. Wenn man einmal den ersten gebrochen hatte, fielen sie alle in sich zusammen, einer nach dem anderen, zerbarsten wie Feuerwerkskörper auf einem Parkplatz am Vierten Juli.
    Ich hatte Angst, sie in diesem Zustand fahren zu lassen, mit Augen, die blind waren vor Zorn. Sie würde uns beide in den Tod reißen, ehe wir drei Häuserblöcke passiert hätten. Doch sie ließ den Motor nicht an. Sie saß nur da, starrte durch die Windschutzscheibe, hielt ihren Oberkörper mit den Armen umklammert und wiegte sich vor und zurück.
    Ein paar Minuten später fuhr ein Auto in die Auffahrt, ein neues Sportwagenmodell mit heruntergelassenem Verdeck, das von einer Blondine gesteuert wurde. Sie war sehr jung und trug einen sehr kurzen Rock. Sie beugte sich vornüber, um ihre Handtasche vom Rücksitz zu nehmen.
    »Sie ist längst nicht so hübsch wie du«, sagte ich.
    »Aber sie ist wohl weniger kompliziert«, flüsterte meine Mutter mit bitterer Stimme.
    Kit beugte sich über die Arbeitsplatte in der Layout-Abteilung, die magentaroten Lippen zu einem wölfischen Lächeln verzogen.
    »Ingrid, stellen Sie sich mal vor, wen ich gestern Abend im Virgins gesehen habe«, sagte sie, die schrille Stimme atemlos vor Gehässigkeit. »Unseren gemeinsamen Freund Barry Kolker.« Sie seufzte theatralisch auf. »Mit einer kleinen Blondine, halb so alt wie er. Männer haben kein besonders gutes Gedächtnis, nicht wahr?« Ihre Nasenlöcher kräuselten sich, während sie ein Lachen unterdrückte.
    In der Mittagspause forderte meine Mutter mich auf, alles, was mir gefiel, aus der Layout-Abteilung mitzunehmen. Wir gingen und würden nicht mehr wiederkommen.

3

    »Ich sollte mir den Kopf scheren«, sagte sie. »Mir das Gesicht mit Asche einreiben.«
    Ihre Augen sahen eigenartig aus, sie waren dunkel umrandet wie von Blutergüssen; ihr Haar hing glatt und fettig
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