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Weiße Nebel der Begierde

Titel: Weiße Nebel der Begierde
Autoren: Jaclyn Reding
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ich erinnere mich nicht einmal daran, den Schuss abgefeuert zu haben. Ich sah nur, wie er ins Gras sank, dann verschwamm mir alles vor den Augen. Die folgenden zwei Wochen waren wie ein Alptraum. Der Duke verschleierte die Geschehnisse der bewussten Nacht, veranlasste, dass Lord Herricks Leichnam weggeschafft wurde, bestach den Arzt, damit er als Todesursache für Vater eine Krankheit attestierte. Er wollte unsere Mutter verbannen und sie öffentlich als Ehebrecherin brandmarken, aber ich flehte ihn an, davon Abstand zu nehmen. Ich versprach ihm, alles zu tun, was er von mir verlangen würde, wenn er sie und das Kind unter ihrem Herzen verschone, die Frage der Vaterschaft unberührt ließe und so weitermachte, als wäre dieser Betrug nie geschehen. Ich schwor ihm, mein Leben in seine Hände zu geben. Und das tat ich.«
    Eleanor starrte ihren Bruder nur an, während sie Mühe hatte, ruhig durchzuatmen. Ihr schwirrte der Kopf. Ihre Hände zitterten.
    Einen Augenblick später kristallisierte sich ein einziger Gedanke aus dem Wirrwarr.
    »Und deshalb hast du eingewilligt, Grace zu heiraten, ohne sie vorher auch nur ein einziges Mal gesehen zu haben? All die Jahre habe ich mich gefragt, warum du so eisern darauf bestehst, dass ich selbst meine Entscheidung treffen kann, während es dir ganz gleichgültig zu sein schien, wen du zur Frau nimmst. Du hast dich geopfert, um unsere Mutter zu beschützen und vor allen, mich eingeschlossen, zu verheimlichen, dass ich in Wirklichkeit nichts anderes als ein Bastard bin?«
    Christian sah sie sprachlos an, seine versteinerte Miene drückte Schmerz und Bedauern aus. Aber bedauerte er, dass er ihr so weh tun musste? Oder schmerzte es ihn, dass er nach all den Jahren der Heimlichkeit nun doch gezwungen gewesen war, ihr die Wahrheit zu sagen?
    Wenn Eleanor Richard nie begegnet wäre, nie daran gedacht hätte, seine Frau zu werden, dann wäre sie vermutlich für den Rest ihres Lebens ahnungslos geblieben und hätte niemals erfahren, dass sie in Wirklichkeit nicht Lady Eleanor Wycliffe und Sprössling einer der glänzendsten Familien von England war, sondern das versehentliche Produkt einer ehebrecherischen Liaison, die zu Morden an zwei Männern geführt hatte - der eine war wahrscheinlich ihr leiblicher Vater, der andere ihr Vater auf dem Papier.
    Ihr ganzes Leben, so wie sie es gekannt hatte, war also nichts als eine Farce. Sie war in dem Glauben aufgewachsen, dass ihre Mutter und ihr Vater wie in einem Märchen zusammengelebt hatten, bevor ihr Vater ungerechterweise viel zu früh dem Tod anheim gefallen war. Sie hatte das geglaubt, weil es ihr die Menschen, denen sie am meisten vertrauen konnte, so erzählt hatten.
    Sie dachte an ein Zitat aus Phrixus von Euripides, in dem von Göttern die Rede war, die die Sünden der Väter den Kindern vergalten, und fragte sich, ob die Götter die Kinder doppelt bestraften, deren Väter und Mütter die Gebote übertreten hatten. Wenn ja, dann war sie sicher verdammt bis in alle Ewigkeit - vielleicht sogar zu einem noch grausameren Schicksal, als ein ganzes Leben die Rolle von jemandem zu spielen, der niemals existiert hatte.
    In dieser Nacht stahl sich Eleanor, während alle Bewohner des Schlosses schliefen, davon in die mondlose Nacht. Sie dachte nicht daran, irgendjemandem zu sagen, dass sie fortgehen wollte. Im Grunde wusste sie selbst gar nicht genau, wohin sie sich wenden sollte.
    Sie nahm fünfzig Pfund mit, die sie in Christians Arbeitszimmer gefunden hatte, um über die Highlands zu kommen; sie schaffte es bis zu der winzigen Küstenstadt Oban. Jetzt saß sie in dem kleinen Salon eines mit Stroh gedeckten Inns an der Hafenstraße und trank Brombeertee. Sie war erschöpft, und ihre Füße in den engen Schuhen waren nach all den Tagen, in denen sie viel gelaufen war, wund. Sie hatte beinahe das ganze Geld ausgegeben. Sie konnte an nichts anderes denken als daran, wie lächerlich es war, dass sie, wenn sie die Rechnung des Wirts bezahlt hatte, gerade noch genügend Geld übrig hatte, um sich im Postschiff eine Passage zurück nach Skynegal zu leisten. Zurück zu den Lügen. Zurück zu den Täuschungen.
    Vielleicht war das ein Zeichen. Vielleicht hätte sie einfach so weiterleben sollen wie bisher - in gnädigem Unwissen und mit der richtigen Fingerhaltung beim Servieren von Tee. Sie hätte so tun können, als wüsste sie nichts von der schrecklichen Vergangenheit. Möglicherweise war es ihr beschieden, die illegitime, naive, falsche
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