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Weil sie sich liebten (German Edition)

Weil sie sich liebten (German Edition)

Titel: Weil sie sich liebten (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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daran, dass du nur dreißig Dollar in
der Tasche hast, das heißt, dass du zu einem Geldautomaten musst. Wie dünn oder
üppig sind die Geldautomaten in West-Vermont gesät? Weint dein Sohn jetzt
gerade, hat er irgendwann im Lauf der Ereignisse geweint? Du denkst daran, wie
sauber dein Körper ist, wie gründlich du dich für den Termin bei der
Dermatologin gewaschen hast. Du denkst an das kleine Muttermal, das sich
plötzlich auf deinem Bauch gezeigt hat. Jetzt kannst du Dr. Carmichael nicht danach
fragen, und bei deinem Glück entpuppt es sich bestimmt als bösartig. Das rechte
Knie tut dir weh, und du versuchst, es ein wenig zu bewegen, auch wenn du auf
dem Gaspedal bleiben musst. Wahrscheinlich, überlegst du, wirst du dir ein
Zimmer für die Nacht nehmen müssen, das Gespräch mit dem Schulleiter wird nicht
im Handumdrehen erledigt sein, kein Gedanke daran, gleich wieder
zurückzufahren. Und dann denkst du darüber nach, ob dein Sohn die Nacht bei dir
verbringen wird, ob er bereits der Schule verwiesen ist. Das Wort krallt sich
in dein Hirn – verwiesen, verwiesen, verwiesen  –, und
es zerreißt dir fast das Herz.
    Wenn Rob der Schule verwiesen worden ist, muss jemand bei der
Brown-Universität anrufen. Du erinnerst dich an den Tag zu Anfang der
Weihnachtsferien, als der dicke Brief mit der Post kam. Du hast Rob, der oben
in seinem Zimmer war, gerufen und ihm das Päckchen auf der Treppe gegeben. Er
hat weiche Knie bekommen bei der Nachricht. Nie hattest du ihn so erleichtert
und so stolz erlebt. Du hast dir den Fotoapparat geschnappt, der auf dem
Küchenbord lag, und ein Bild geschossen, von dem du schon in dem Moment
wusstest, dass es dir dein Leben lang teuer sein würde. Rob lachend, mit
zurückgeworfenem Kopf, in den Händen den aufgerissenen Briefumschlag.
    Du fährst vom Highway ab auf die Route 30. Du fährst zu schnell. Das
Internat war deine Idee, und Arthur wird dich garantiert daran erinnern. Du
hattest gehört, dass an den öffentlichen Schulen überall getrunken wird, und
das machte dir Angst. Ein Abendessen bei Julie kommt dir in den Sinn. Ein
Gespräch. Der Freund eines Freundes beugt sich zu dir hinüber und sagt: »Haben
Sie daran schon einmal gedacht? Für seine letzten beiden Schuljahre?« Ein
Gedanke begann Form anzunehmen. Arthur war vorsichtig; Rob oberflächlich
interessiert.
    Ihr habt euch alle einen Tag freigenommen und der Schule in
West-Vermont einen Besuch gemacht. Die Landschaft war reizvoll, die Schule
verführerisch. Du hast dir vorgestellt, du wärst dort Schülerin, und hast
gemerkt, dass sich bei deinem Sohn ähnliche Phantasien entwickeln könnten. Du
hast diese Phantasien geschürt: Eine hervorragende Schulbildung, bessere
Chancen, an einer guten Universität genommen zu werden, Wochenenden daheim,
nicht so weit weg, ein großartiges Skigebiet. Kleine Dinge fielen deinem Sohn
auf, und du hast es zur Kenntnis genommen. Ein Poster, das den Besuch eines
bekannten Autors ankündigte. Ein Mädchen mit langen, schlanken Beinen, das auf
einer Steinmauer saß. Eine Turnhalle mit zwei Basketballfeldern. Wohnheime, die
aussahen, als gehörten sie zu einer Eliteuniversität in Neuengland. Arthur war
beeindruckt, wenngleich verblüfft über deine Bereitwilligkeit.
    Du wolltest deinen Sohn sicher aufgehoben wissen, hast du ihm
erklärt. So einfach sei das. Auch wenn es bedeute, ihn hergeben zu müssen.
    Aber war das wirklich der ganze Grund gewesen? Oder hast du
vielleicht endlose Diskussionen kommen sehen, die Notwendigkeit, unablässig
wachsam zu sein, eine nie nachlassende Angst, dass dein Sohn dir fremd werden
könnte? Hast du dir vielleicht eine Nacht vorgestellt, in der dein Sohn
betrunken nach Hause kommen und versuchen würde, dir vorzulügen, er hätte nicht
getrunken? Oder eine Nacht, in der er den Fehler macht, sich einzubilden, er
könnte trinken und trotzdem Auto fahren? Du hast an deinem Sohn etwas erkannt,
das er selbst vielleicht bis heute nicht erkannt hat: dass die Gefahr ihn
reizt, unwiderstehlich anzieht.
    Die Fahrt dauert Stunden. Du musst aufs Klo und hältst an einem
Rasthaus. Du bist hungrig, aber du hast jetzt nicht die Ruhe zu essen. Du
rennst zum Auto zurück.
    Du fährst einen Berg hinauf und auf der anderen Seite wieder
hinunter. Du musst an die Skihütte denken, die ihr im letzten Jahr gemietet
hattet, wo Rob und seine Freunde euch an den Wochenenden besuchten. Du weißt
noch genau, wo jeder geschlafen hat, erinnerst dich an die gemeinsamen
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