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Weil sie sich liebten (German Edition)

Weil sie sich liebten (German Edition)

Titel: Weil sie sich liebten (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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analysiert,
Schlussfolgerungen gezogen. Du könntest nach Einzelheiten fragen, aber du
spürst schon, dass die Geschichte vielleicht zu – zu peinlich ist, um am
Telefon besprochen zu werden. Und in dem Moment erkennst du klar, dass es bei
diesem Anruf nicht allein darum geht, dich von dem ›Vorfall‹ in Kenntnis zu
setzen, sondern vor allem darum, zu veranlassen, dass du schnellstens kommst.
    Ein paar Minuten lang bleibst du mit den Schlüsseln in der Hand auf
der Bank sitzen, die Lähmung hat dich schon im Griff. Du starrst die
Küchenschränke an und denkst, Rob . Bilder tauchen
auf, eines nach dem anderen. Ein aufwärts gewandtes Gesicht, im Licht glänzende
runde Wangen, zwei Zähnchen zwischen leicht geöffneten rosa Lippen. Ein
nackter, nasser Zweijähriger in einem Catchergriff gefangen, dein lachender
Sohn frisch aus der Badewanne. Ein zartes Gesicht vom Kunstpelz der Kapuze des
Schneeanzugs umrahmt, so steht er neben einem schmelzenden Schneehaus. Die
Liebe zu deinem Sohn scheint fast unerträglich. Du weißt, warum dir diese
unschuldigen Bilder gerade in diesem Moment in den Sinn gekommen sind, weil die
Unschuld jetzt zerstört ist. Nach diesem Anruf, den du eben erhalten hast.
    Du überlegst, ob du Arthur im Büro anrufen sollst, verwirfst den
Gedanken aber sogleich. Er wird für den Heimweg fast eine Stunde brauchen, und
so lange kannst du nicht warten. Schon die vier Stunden Fahrt zum Internat
werden die Hölle werden. Außerdem wird Arthur, wenn du ihn anrufst,
wahrscheinlich sofort mit Tommy, eurem Anwalt, Kontakt aufnehmen, und du weißt
instinktiv, dass das im Augenblick der falsche Schritt wäre. Erst einmal musst
du allein mit eurem Sohn sprechen.
    Du stehst auf. Was brauchst du? Die Antwort ist einfach: sehr wenig.
Nur deinen Mantel und deine Handtasche, und die hast du schon. Nichts hindert
dich daran, gleich ins Auto zu steigen. Nur vorher noch rasch zur Toilette, wo
du bemerkst, dass deine Hände zittern.
    Wo wird Rob sein, wenn du endlich den Westen von Vermont erreichst?
Werden sie ihn die ganze Zeit im Direktorat warten lassen? Haben sie ihn unter
eine Art Hausarrest gestellt und in sein Zimmer verbannt? Ist die Polizei zugezogen
worden? Das sind lauter Fragen, die du am Telefon hättest stellen können, wenn
du deine fünf Sinne beisammengehabt hättest, aber das war nicht möglich und ist
es auch jetzt noch nicht.
    Du setzt dich ins Auto und fährst rückwärts aus eurer Einfahrt
hinaus. Als du das Lenkrad einschlägst, um auf die Straße abzubiegen, kommt dir
augenblicklich eine neue Flut von Bildern entgegen. Rob mit Helm und
aufgekrempelten Ärmeln auf einem Skateboard. Ein Gesichtchen, das in dem Haufen
Plüschtiere auf dem Fußboden kaum zu erkennen ist. Ein kleiner Junge mit
schlampig geschnittenen Haaren und schief sitzendem gelben Halstuch, der stolz
lächelnd sein Pfadfinderbuch hochhält. Normalerweise kannst du von solchen
Bildern gar nicht genug bekommen, weil du dich an vieles nicht erinnern kannst,
keine Mutter kann sich an jede Kleinigkeit erinnern, und manchmal fürchtest du,
dir wären überhaupt keine Bilder geblieben, wenn nicht die Fotoalben wären. Und
wie lange wird es dauern, bis du nicht einmal mehr genau weißt, in welchem Jahr
diese oder jene Aufnahme gemacht wurde? Aber jetzt? Jetzt stören dich diese
Bilder, weil du unbedingt nachdenken musst.
    Dir fällt ein, dass du vergessen hast, die Dermatologin anzurufen,
und du fragst dich flüchtig, ob sie dir den versäumten Termin berechnen wird.
Dein Mobiltelefon ist in der Handtasche, du könntest jetzt anrufen, aber der
Gedanke, beim Fahren das Handy herauszukramen und nach der Nummer zu suchen,
hält dich davon ab. Und was würdest du denn als Entschuldigung vorbringen? Mein Sohn steckt in den größten Schwierigkeiten seines Lebens?
    Du fährst nach Nordwesten. Du stellst dir vor, du wärst einfach
unterwegs, nicht auf der Fahrt zu deinem Sohn, sondern auf einer Fahrt ohne
Ziel. Du fährst und hältst irgendwann einmal an. Vor einem Motel. In einer anderen
Stadt. Anonymität. Freiheit. Der Traum ist dir vertraut, du träumst ihn seit du
siebzehn warst. Du hast ihm nie nachgegeben, bist nicht ein einziges Mal ins
Auto gestiegen und einfach losgefahren, um zu sehen, wohin der Weg dich führt,
und anzuhalten, wenn du Lust dazu hattest, ohne Ziel und ohne Zeit. Es hat
Momente in deinem Leben gegeben, da wäre so etwas möglich gewesen. Aber du hast
die Möglichkeit nie genutzt.
    Während du fährst, denkst du
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