Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weihnachtsgeschichten am Kamin 04

Weihnachtsgeschichten am Kamin 04

Titel: Weihnachtsgeschichten am Kamin 04
Autoren: Uwe Friedrichsen , Ursula Richter
Vom Netzwerk:
Mutter überwog — die Freude über den Zucker, öder der Kummer über meine verkleisterte Mütze, die einzige, die ich besaß!
    Das also war die Vorgeschichte von der Entstehung Oskars, den unsere Mutter aus den derart mühsam erworbenen Backzutaten zauberte. Meine Geschwister bekamen natürlich auch einen Lebkuchenmann auf den ansonsten fast leeren Gabentisch gelegt, aber mein Oskar, mit seinen gelben Augen aus Maiskörnern und Nase und Mund aus weißen Bohnen, war der schönste von allen. Ach, und wie herrlich er duftete! Immer wieder schnupperte ich an ihm herum, und es fiel mir unendlich schwer, ihn nicht zu probieren. Ich verkniff es mir jedoch heldenhaft und nahm mir vor, ihn niemals aufzuessen. Mein ganzes Kinderherz hing an ihm.
    Oskar lag nachts in einer alten Zigarrenkiste auf dem Stuhl neben meinem Bett, das in einer winzigen Abstellkammer stand. Tagsüber ließ ich ihn nicht aus den Augen, aus Angst, meine Geschwister könnten ihn anknabbern oder gar aufessen. Eines Nachts nun weckte mich ein merkwürdiges Geräusch, ein unbekanntes Knacken und Kraspeln. Ich schoß in die Höhe und lauschte! Sollte etwa mein Bruder meinen Oskar klauen wollen? Alles war totenstill. Im Dunkeln fühlte ich nach der Zigarrenkiste und atmete erleichtert auf, als sie noch vorhanden war. Hatte ich vielleicht nur geträumt?
    Ich kuschelte mich etwas verwirrt unter die Bettdecke und war fast eingeschlafen, als wieder diese seltsamen Geräusche begannen, doch kaum hatte ich mich aufgerichtet, war nichts mehr zu hören. Nachdem sich das Ganze einige Male wiederholt hatte, wollte ich der Sache auf den Grund gehen. Ich tappte zum Lichtschalter und sah mich beim trüben Schein der 25-Watt-Birne um. Nichts Auffälliges war zu sehen und zu hören. Mir wurde kalt in dem ungeheizten Raum. Ich ließ das Licht brennen und legte mich im warmen Bett mucksmäuschenstill auf die Lauer. Da, plötzlich ging es wieder los, dieses Knispern und Knaspern! Ich wagte nicht, mich zu rühren, starrte aber angestrengt in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Bewegte sich da nicht etwas am Fuß der hohen hölzernen Türschwelle? Tatsächlich, ein paar weiße Borsten zitterten hin und her, denen bald ein spitzes Schnäuzchen und ein Paar schwarzer, blanker Knopfaugen folgten. Eine kleine Maus hatte sich ein Loch ins Zimmer geknabbert, was bei den uralten Lehmwänden wohl nicht allzu schwer gewesen war. Kurz darauf war das Loch groß genug, und das Mäuschen huschte heraus. Es suchte offensichtlich nach etwas Freßbarem, in der damaligen Zeit, wo nicht einmal die Menschen satt wurden, ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen.
    Das arme Tierlein tat mir leid. Ich sah seinem Treiben eine Weile regungslos zu und nannte es in Gedanken zärtlich «armes Karolinchen», aber davon wurde es auch nicht satt. — Wie wäre es, wenn ich heimlich aus der Küche ein Stück Brot mopste? Nein, das ging nicht. Meine Mutter hätte es bestimmt gemerkt, denn die knappen Brotrationen waren genau eingeteilt. Es half alles nichts — ich mußte ein Stückchen von meinem heißgeliebten Oskar opfern. Nach langem inneren Kampf brach ich eine Ecke von seinem rechten Bein ab und legte sie vor das Loch, in das sich Karolinchen geflüchtet hatte, als ich mich bewegte. Lange konnte sie dem verlockenden Duft aber nicht widerstehen. Sie kam heraus und fing heißhungrig an zu fressen. Ich opferte Stückchen für Stückchen, und als sie endlich satt war, hatte mein Oskar keine Beine mehr.
    Am nächsten Tag zog mich mein Bruder, der seinen Lebkuchenmann längst restlos vertilgt hatte, mächtig auf, als er den verstümmelten Oskar sah: «Du hast doch gesagt, daß du ihn nie, nie aufessen wolltest!» — Ich sagte kein Wort dazu und hütete mein Geheimnis, um zu verhindern, daß meine Mutter eine Mausefalle aufstellte. Oskar wurde von Nacht zu Nacht kleiner, und ich hatte ihn noch kein einziges Mal probiert. Als nur noch der Kopf übrig war, entdeckte mein Vater das Mauseloch und gipste es kurzerhand zu. Ich habe dann den Kopf mit den Maisaugen aufgegessen, aber geschmeckt hat er mir nicht!
    Noch heute, nach rund vierzig Jahren, wenn ich den Weihnachtstrubel und die Berge von Geschenken sehe, denke ich oft heimlich an ihn zurück, an Oskar, den Lebkuchenmann.

    Kurt Brinkmann

Sein schönstes Weihnachtsgeschenk

    Damals im Herbst 1952 zeigte sich der kommende Winter schon ungewöhnlich früh in Asbest, der kleinen russischen Stadt östlich des Mittleren Urals. Es war gerade Oktober, als
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher