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Wehrlos: Thriller

Wehrlos: Thriller

Titel: Wehrlos: Thriller
Autoren: Elena Sender
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ersten Tage vertrieben. Morten spürte, es fehlte nicht mehr viel, und einige Besatzungsmitglieder würden handgreiflich werden. Es war Zeit zu handeln.
    Plötzlich fiel sein Blick auf einen Strudel, den er nur allzu gut kannte. Die glatte Oberfläche brach auf, legte einen schwarz glänzenden Rücken frei und schloss sich erneut. Mortens Herz begann schneller zu schlagen. Ein weiterer Strudel an anderer Stelle, eine Rückenflosse tauchte auf und verschwand wieder. Sie kamen näher. Und plötzlich waren es Dutzende. Die Grindwale durchbrachen die dunkle Seide und verschwanden wieder. Hier und da ein Blas, einer Fontäne gleich. Die majestätischen Mitglieder aus der Familie der Delfine schwammen in aller Unschuld in ihren sicheren Tod.
    Nach einem Blick mit dem Fernglas nach Steuerbord stellte Morten fest, dass die zerklüftete Küste der Färöer-Inseln immer näher rückte. Die hohen, schroffen und baumlosen Felsen mit der niederen Vegetation, die die Nordküste säumten, wurden gen Osten hin immer flacher und verwandelten sich schließlich in sanfte grüne, in die Fjorde abfallende Hügel. Schon erkannte man die ersten roten Dächer der hübschen kleinen Häuser oberhalb der Bucht. Eine idyllische Kulisse, die bald in Blut getaucht sein würde.
    Das geübte Auge des Wachpostens oben auf dem Felsen hatte die Wale sicher bereits entdeckt und Alarm gegeben. Morten konnte sich mühelos vorstellen, wie sich die Bewohner bewaffneten, Säbel, Macheten und Gewehre aus ihren Schränken holten. Das schrille Pfeifen des Windes schmerzte in seinen Ohren. Langsam spürte er Zorn in sich aufsteigen, der seine Adern durchströmte und seine Muskeln zum Angriff stählen würde. Als sich die dunkle Energie in seinem ganzen Körper ausgebreitet hatte, ließ er das Fernglas sinken und ging nach unten in die Messe. »Sie sind da, alle Mann an Deck!« Seine Mannschaft war auf acht Kabinen zu beiden Seiten des kleinen dunklen Gangs verteilt, der nach feuchtem Holz roch. Er klopfte an jede Tür, blieb an der dritten stehen und öffnete sie.
    »Los, Rachel, aufstehen!«
    Rachels zerzauster brauner Haarschopf tauchte in der unteren Koje auf. Sie schniefte. »Wie viele sind es?«
    »Zwei Schulen mit jeweils mindestens hundert Tieren.«
    Rachel griff nach der roten Neoprenhose, die zusammengeknüllt vor dem Bett lag, und schlüpfte hinein. »Ich komme.«
    »Bist du froh, dass es das letzte Mal ist?«
    »Dann muss ich mir wenigstens dein Gemecker nicht mehr anhören …«, meinte sie und zwinkerte ihm zu.
    Morten wartete kurz, als wolle er noch etwas sagen, wandte sich dann jedoch ab und schloss die Tür hinter sich. Rachel fragte sich, ob er – genau wie sie – ein wenig sentimental wurde bei der Vorstellung, dass es sich um ihren letzten gemeinsamen Einsatz handelte. Seit nunmehr fünf Jahren vertrauten sie einander, um in der ganzen Welt Meereswilderer zu jagen. Sie schlüpfte in ihre Neoprenstiefel, stand auf, zog die Öljacke an, fuhr mit den Fingern durch ihr störrisches trockenes Haar und bändigte es mit einem Gummiband.
    »Rachel«, rief Karl von der Messe aus, »vergiss die Walkie-Talkies nicht.«
    »Okay«, antwortete sie ihm durch die geschlossene Tür.
    Rachel, das bedeutete auf Hebräisch »das Lamm«. Lange hatte sie ihren Vornamen, Symbol der Unterwerfung, der in der biblischen Geschichte eine halb schmeichelhafte, halb abwertende Bedeutung hatte, verabscheut. Ein hübsches Dummerchen, in das sich Jakob auf Anhieb verliebt hatte und das vierzehn Jahre lang auf ihn wartete, während ihre Schwester und ihr durchtriebener Vater sie austricksten. Erst die Erklärungen eines jüdischen Psychiaters und Freundes ihrer Eltern hatten sie mit ihrem Namen versöhnt. »Rachel steht nicht nur dafür«, hatte er ihr gesagt. »Sie hat auch die goldenen Statuen ihres Vaters gestohlen, um gegen ein ungerechtes System zu protestieren, das nur den männlichen Nachkommen ein Erbe zuschrieb. Sie war die erste feministische Heldin der Geschichte!« Bei dieser Erinnerung lächelte Rachel, denn als überzeugte Umweltschützerin und Feministin gefiel ihr diese Interpretation.
    Sie nahm die in wasserdichte Hüllen verpackten Walkie-Talkies, die über dem Spiegel ihres Nachtkästchens hingen. Joanna, die in der oberen Koje schlief, hatte am Spiegel ein kleines Foto ihrer Hunde befestigt. Drei muntere Promenadenmischungen, die in ihrem Blumengarten herumtollten. Auf der anderen Seite hatte Rachel ein Bild von ihrem Sohn angebracht. Sie beugte sich
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