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Warum unsere Kinder Tyrannen werden

Titel: Warum unsere Kinder Tyrannen werden
Autoren: Michael Winterhoff
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heute noch zwei bis vier komplett unauffällig, alle anderen zeigen, in der Mehrzahl miteinander kombinierte, Störungsbilder. Dabei handelt es sich eben nicht um neurotische Störungsbilder, sondern überwiegend um Entwicklungsstörungen im Rahmen einer Fixierung in frühkindlichen psychischen Reifephasen.
    Würde ich versuchen, diese Störungen innerhalb des begrenzten Systems Familie zu analysieren, wäre ich zum Scheitern verurteilt. Die Eltern dieser Kinder sind in der Regel psychisch gesund, es kann also zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis führen, ausschließlich in ihrer Lebensgeschichte nach Gründen für das besorgniserregende Verhalten ihrer Kinder zu suchen.
    In der Folge dieser Erkenntnis, die sich über die Jahre zwingend eingestellt hat, musste ich meine Analysewerkzeuge
gründlich überdenken. Die Entwicklungsstörungen der Kinder waren eindeutig zu diagnostizieren, die Bemühtheit und psychische Normalentwicklung der Eltern ebenso. Der Grund für die besorgniserregenden Auswüchse musste also außerhalb dieser personalen Sphäre und in der Umwelt der Kinder liegen.
    Mein Weg führte somit zwangsläufig weg vom Selbstverständnis eines Analytikers des »Systems Familie« hin zur Analyse des »Systems Gesellschaft«. Mein Zugang zu den mir präsentierten Problemfeldern wandelte sich also in eine soziologisch geprägte Richtung, gleichwohl immer noch mit dem Instrumentarium des Kinderpsychiaters. Mein Ziel konnte es nicht sein - und ist es immer noch nicht - den Gesellschaftstheoretikern der Zeit Konkurrenz zu machen. Doch konnten die tieferen Gründe für das defizitäre Verhalten der Erwachsenen, die mit meinen jungen Patienten zu tun hatten, nur in einer Reaktion auf die sie selbst beeinflussenden Elemente in ihrem Umfeld zu tun haben.
    Um also zu verstehen, warum psychische Fehlentwicklungen die Grundlage für die Probleme mit unseren Kindern sind, darf ein genauer Blick auf die Welt der sie prägenden Erwachsenen nicht fehlen.
    Wir befinden uns heute auf einem selbst generierten Crash-Test. Mit höchster Geschwindigkeit und ohne sich vorher erkundigt zu haben, wo die Bremse sitzt und wie man das Steuer noch rechtzeitig herumreißen könnte, rast der Rennwagen, der sich moderne Gesellschaft nennt, auf eine Mauer zu und vertraut darauf, dass dieser Höllenritt schon irgendwie gut gehen möge. Seine derzeitige rasante Geschwindigkeit aufgenommen hat dieser Rennwagen vor gut sechzig Jahren.
    Die letzte große Katastrophe der modernen Gesellschaft war der Zweite Weltkrieg. Nicht umsonst spricht man häufig
von der »Stunde Null«, wenn der Wiederbeginn nach der Kapitulation des NS-Staates gemeint ist. Dieser Begriff impliziert einen kompletten, ausschließlich nach vorne gerichteten Neubeginn. Dieser Neubeginn setzte in den Trümmerjahren der 50er-Jahre mit voller Kraft ein und hat bis heute verschiedene Ausprägungen, jedoch keine wesentliche Unterbrechung oder gar ein zeitweiliges Zurückgeworfensein auf einen früheren Stand erfahren. Dabei weist bereits der beliebte Begriff des »Wirtschaftswunders« implizit darauf hin, dass es sich letztlich um ein kaum vom Menschen zu regulierendes Phänomen, eben eine Art »Wunder«, handelte, welches seine große Kraft vor allem auch aus einer riesigen Eigendynamik schöpfte.
    Die Gesellschaft vollzieht, gerade im technischen Bereich, einen immer rasanteren Wandel, die Halbwertzeit neuer Entwicklungen tendiert gegen Null. Kaum hat der Mensch begonnen, sich auf eine neue Situation in seinem Lebensumfeld einzustellen, ist diese bereits wieder überholt und von der fortschreitenden Entwicklung unwichtig gemacht.
    Der Mensch in der Gesellschaft ist mit dieser Entwicklung jedoch zunehmend überfordert. Die Vokabel »Fortschritt« erweist sich mehr und mehr als im wörtlichen Sinne zu verstehen, nämlich als ein »Hinfortschreiten« vom Menschen und seinen wirklichen Bedürfnissen. Gesamtgesellschaftlich gesehen ist der maximale Wohlstand unserer Gesellschaft seit längerer Zeit erreicht, es gibt keine als real wahrgenommene Gefahr von Krieg, Hunger, Armut und ähnlichen existentiellen Erfahrungen, sondern höchstens eine Art Unwohlsein innerhalb des Wohlstandssystems.
    Das hat dazu geführt, dass wir heute erstmals in einer nicht mehr zukunftsweisenden Gesellschaft leben. Würde man die Menschen heute fragen, welche
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