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Warum unsere Kinder Tyrannen werden

Titel: Warum unsere Kinder Tyrannen werden
Autoren: Michael Winterhoff
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knüpfen.
    Er öffnet täglich heimlich die Ranzen seiner Mitschüler und stöbert darin. Allen Gesprächen gegenüber bleibt er uneinsichtig, sogar reaktionslos, und er setzt wochenlang dieses Verhalten fort. Er wirkt meist teilnahmslos an jeglichem Geschehen, kann dem Unterricht nicht folgen und reagiert auch nicht auf seinen Namen. Es kann vorkommen, dass eine einfache Anweisung bis zu sechsmal wiederholt werden muss, bevor Yanik zwar eine Reaktion zeigt, die dann aber oft nicht situationsrelevant ist.

    Beide Eltern sind der Meinung, bei Yanik lägen gewisse Schwierigkeiten bzw. Entwicklungsrückstände in der Motorik sowie in der Konzentration vor, die jedoch zu beheben seien, wenn die Mutter ihn nur entsprechend fördere (Die Mutter denkt beispielsweise, dass die Probleme im Bereich der Feinmotorik durch das Ausmalen von Mandalas aufgehoben werden können.).
    Yanik ist nicht motiviert, dem Unterrichtsgeschehen zu folgen. Interessant dargebotene Arbeitsinhalte machen ihn nicht neugierig. Er benutzt Arbeitsblätter, Stifte oder sein Arbeitsbuch nur, um damit zu spielen. Er ist sehr antriebsarm und braucht äußerst lange, bis er mit einer Aufgabe beginnt. Er zeigt eine extrem kurze Aufmerksamkeits- und Arbeitsspanne, braucht permanente Aufforderung, an der Arbeit zu bleiben, ist extrem leicht ablenkbar.
    Seinen Platz in der Klassengemeinschaft konnte Yanik bisher nicht finden, was maßgeblich an seiner ambivalenten Art liegt, Kontakte zu knüpfen. Er schreit seine Mitschüler an, rempelt sie grundlos an, zankt und drängt sich durch Streicheln, etc. auf. In Spielsituationen findet er ebenfalls nicht zur Gruppe. Er grenzt sich selbst aus, indem er andere im Spiel stört oder Gebautes zerstört.
    Zu guter Letzt hat sich Yanik vor einigen Wochen einer Gruppe Drittklässlern angeschlossen, die ihn regelrecht »dressiert« haben und deren »Aufträge« er willig durchgeführt hat, etwa andere Kinder zu hauen oder anzuspucken, »schmutzige« Wörter sagen, usw.

Kapitel 8
    Die gestörte Gesellschaft
    Kinder werden in die Gesellschaft hineingeboren, sie können sich nicht aussuchen, wann und wo sie zur Welt kommen wollen und wer ihre Eltern sein sollen. Ein menschlicher Säugling lebt, anders als bei den meisten Tierarten, sehr lange Zeit in totaler Abhängigkeit von den Eltern, vor allem von der Mutter. Allein diese Tatsache macht schon deutlich, dass ich bei meiner Tätigkeit als Kinderpsychiater niemals isoliert das vermeintlich kranke Kind betrachten kann, sondern immer ein sehr viel größeres Feld im Auge haben muss.
    Ich habe das ansatzweise bereits mit dem Verweis auf die unbedingt notwendige Anamnese der Eltern beschrieben, ohne die eine Beurteilung des Kindes und seines Verhaltens keinen Sinn macht.
    Das bedeutet, wenn ich vom konkreten Einzelfall absehe und meine Tätigkeit theoretisch beschreibe, dass ich systemanalytisch vorgehe. Das Kind ist eingebunden in das »System Familie«. Wenn mir also ein Kind vorgestellt wird, kann ich sein Verhalten nur verstehen, wenn ich es als Teil dieses Systems begreife und die unterschiedlichen Wechselwirkungen innerhalb dieses Systems berücksichtige. Die Einzeldiagnose des Kindes erfolgt somit auf dem Boden einer Strukturdiagnose in Bezug auf die Familie.
    Zu Beginn meiner Tätigkeit war dieser Ansatz durchaus ausreichend, um der Mehrzahl der Störungen auf den Grund
zu gehen, die sich mir in der Praxis präsentierten. Zumeist handelte es sich um neurotische Störungsbilder bei den Kindern, die in Zusammenhang mit pathologischen Befunden bei den Eltern zu sehen waren und entsprechend isoliert behandelt werden konnten. Ich konnte mich also in diesen Fällen bei der Diagnose immer auf die individuelle Lebensgeschichte des Kindes und seiner Eltern stützen und hier Ursache und Wirkung finden.
    Meine heutige Tätigkeit hat mit der Analyse des »Systems Familie« in der überwiegenden Zahl der Fälle keinen gangbaren Ansatz mehr. Neurotische Störungsbilder sind zur Seltenheit geworden, dafür ist die beschriebene Entwicklungsfixierung in einem psychischen Alter von unter sechs Jahren die Regel geworden. Gab es vor 15 oder 20 Jahren etwa zwei bis vier auffällige Kinder pro Schulklasse, so hat sich das Verhältnis heute genau umgedreht, wie etwa das Beispiel des Eingangstests an der Grundschule in Kapitel 2 gut zeigt: Von etwa 25 Kindern in einer Schulklasse sind
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