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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Autoren: Douwe Draaisma
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Bailly so ausgesehen hat.
    Über sein Leben ist nicht viel bekannt. Zeitgenossen haben kaum Berichte über ihn hinterlassen. Bailly ist 1584 in Leiden geboren.
    Nach einigen Besuchen im Geschäft des Graveurs Jacques de Geyn beschloß er, Maler zu werden. Im Winter des Jahres 1608 -Bailly war damals 24 Jahre alt - reiste er nach Deutschland und Italien. Er verdiente sich als Maler seinen Unterhalt und kehrte nach fünf Jahren nach Leiden zurück. Dort konnte er sich schnell einen Namen als Porträtmaler machen. Seine Abnehmer fand er vor allem in universitären Kreisen. Bailly malte unter anderem die Professoren Vossius, Barlaeus und Cocceius.
    Bailly heiratete erst spät, 1642. Er war damals 58 Jahre alt. Das Alter seiner Braut, Agneta van Swanenburgh, ist nicht bekannt.
    Im Frühjahr 1657 ließ das Paar ein Testament aufsetzen. Bailly war damals schon zu schwach zum Unterschreiben. Sein Ableben, wahrscheinlich an einem der letzten Oktobertage, ist am 5. November 1657 im Register der Pieterskerk eingetragen. Baillys Tod wird man nicht als Verscheiden eines prominenten Leideners erfahren haben: die Aufzeichnung in der Pieterskerk ist nicht in das Bestattungsregister des Rathauses übernommen worden.
    Heute ist Baillys Name vor allem mit seinem Porträt mit Stille-
    ben verbunden. Das Stilleben ist eine Vanitas, eine Abbildung der Vergänglichkeit. Die Diagonale, die an Baillys Kopf beginnt, endet beim Schädel, der die Gegenstände auf dem Tisch beherrscht. Die leeren Augenhöhlen sind auf das Blatt Papier gerichtet, das in der äußersten Ecke hängt und worauf der Text »Vanitas vanitum, et omnia vanitas« zu lesen ist. Zwischen Kopf und Totenschädel schneidet die Diagonale eine gerade erst gelöschte Kerze, von der noch eine kleine Rauchfahne aufsteigt. Über dem Tisch schweben

    Detail aus Porträt mit Stilleben
    Seifenblasen, »vita bulla«, das Leben ist eine Seifenblase. Der Schädel liegt zwischen Gegenständen, die das Vergängliche des Irdischen unterstreichen. Der Römer ist umgefallen, die Pfeife erloschen, die Rosen sind verwelkt, Münzen und Schmuck liegen ungeordnet auf dem Tisch. In der Sanduhr, die man gerade noch hinter dem Buch erkennt, ist die Zeit fast abgelaufen.
    Über der Palette an der Wand hängt eine Zeichnung eines Lautenspielers nach Frans Hals. Dicht vor dem Maler ist das Ende einer Blockflöte sichtbar. Von allen Künsten war Musik die ver-
    gänglichste, man konnte schließlich - im siebzehnten Jahrhundert - nichts davon bewahren. Das erste künstliche Gedächtnis für Klänge, der Phonograph, wurde erst 1877 erfunden.
    Ein faszinierendes Detail wurde durch Röntgenaufnahmen entdeckt. Offensichtlich zeigte Bailly in einem früheren Entwurf mit seinem Malerstock auf ein Frauengesicht mitten über dem Tisch. Später ruhte der Stock auf dem Tisch, aber das Frauengesicht blieb ganz vage, fast eine Geistererscheinung, hinter der Flöte sichtbar. Für den Betrachter ist sie ein verschwommenes Rätsel. Wer war sie? Warum erhielt sie anfangs einen so herausragenden Platz? Was bewog Bailly dazu, sie wieder verschwinden zu lassen? Und vor allem: Warum ließ er sie hinter Lagen verschwinden, die ihre Züge noch durchschimmern lassen?
    Baillys Gesicht hat einen etwas rechthaberischen Ausdruck. Er scheint Ende zwanzig, Anfang dreißig zu sein, vielleicht gerade von seiner Reise zurückgekehrt, ein Mann auf dem Weg nach oben. Aber der Ausdruck der Selbstgenügsamkeit ist mit Ernst vermischt, was noch verstärkt wird durch das kleine Porträt des alten Mannes, das er festhält. Bailly scheint sagen zu wollen, daß er sich dessen bewußt ist, einmal ein alter Mann zu sein. Er hält dem Betrachter buchstäblich das Alter vor.
    Das Porträt mit Stilleben verbildlicht, daß wir unser Leben nach der Aussicht des letzten Rückblicks einrichten müssen. Wie werden wir am Ende auf die Werte zurückschauen, die unser Leben bestimmt haben? Was werden wir dann an Reichtum haben, der Schönheit der Kunst, der Gelehrtheit in Büchern und all dem anderen, dem wir nachgejagt haben? Als Schilderung unserer Aussichten muß das Porträt mit Stilleben von links nach rechts gelesen werden, von der Jugend zum Alter, von der Vergangenheit zur Zukunft. Genau wie der Pfeil der Zeit weist das Gemälde nach rechts.
    Aber das Porträt mit Stilleben ist außer diesem Gemälde auch gleichzeitig ein anderes. Und um dieses andere Gemälde zu sehen, muß man zwei Dinge wissen. Erstens: Auf demselben Blatt Papier wie der
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