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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Autoren: Douwe Draaisma
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Depersonalisation sind die Bilder leblos und blaß, und wenn man überhaupt ein Gefühl dabei empfindet, dann ist das eher Gleichgültigkeit, während die Weltentsagung bei der Erfahrung einer Panoramaerinnerung aus dem friedlichen Gefühl heraus entsteht, alles sei in Ordnung.
    Der Neurologe Hughlings Jackson äußerte gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts eine Theorie über den Ursprung von Halluzinationen, die in unserer Zeit auch als Erklärung für die Panoramaerinnerung aufgeführt wird. Das menschliche Gehirn ist dem Fehlen von Sinnesreizen schlecht gewachsen. Wenn die Sinnesorgane ausgeschaltet oder durch monotone Reize betäubt werden und die Nahrung von außen wegfällt, stellt sich das Gehirn eine Notration zusammen. Es wendet sich an Reize, die in der Vergangenheit gespeichert wurden, und verarbeitet diese erneut. Das geschieht mit so großer Intensität, daß der Sterbende denkt, er schaue von außen darauf, als würde es sich vor seinen Augen abspielen. Wo man normale Erinnerungen >von innen< erfährt, als würde man sie >im Kopf< sehen, haben die Bilder der Panoramaerinnerung eine Schärfe und Lebendigkeit, die unter normalen Umständen nur Bilder >von außen< haben. Der Psychiater West verglich die Position des Gehirns mit einem Mann, der in einem Zimmer vorm Fenster steht. Hinter ihm brennt das Kaminfeuer. Tagsüber sieht er die Welt draußen. Aber wenn die Dämmerung hereinbricht, spiegelt sich allmählich die Einrichtung seines Zimmers in der Fensterscheibe. Schließlich starrt er, ohne sich dessen bewußt zu werden, sich selbst in seinem hellerleuchteten Zimmer an. Die Bilder aus seinem Inneren sind innerhalb des Fensterrahmens gegen das Dunkel der Nacht projiziert.
    Die Panoramaerinnerung als Halluzination, die durch den Wegfall von Sinnesreizen aufgerufen wird, scheint gut zum Nahtod durch Ertrinken zu passen. Beaufort schrieb, daß dem Tumult des Wassers und der Panik zu ersticken »ein gelassenes Gefühl tiefster Ruhe folgte«, seine Sinnesorgane beschrieb er als »betäubt«. Danach begannen äußerst lebendige Bilder durch seinen Geist zu ziehen, »angefüllt mit allen kleinen und nebensächlichen Einzelheiten«. Auch andere haben berichtet, daß der Rückblick begann, als die Aufregung abklang. 1896 veröffentlichte die Revue Philosophique den Bericht eines Mannes, der als Achtjähriger beim Wasserschöpfen vornüber gestürzt war und im letzten Moment gerettet wurde. Er erinnerte sich, daß er erst mit aller Kraft versucht hatte, wieder ans Ufer zu kommen, dann spürte, wie ihm das Wasser in Mund und Ohren drang, er aufhörte zu zappeln und reglos im Wasser trieb. In diesem Augenblick begann »ein extrem schneller, kaleidoskopischer Aufzug zahlreicher Ereignisse aus meinem vergangenen Leben«. Die Bilder waren »höchst kräftig und scharf, äußerlich, ich sah mich selbst von außen wie ein anderer«. Erneut: Bilder aus der Erinnerung, die von außen zu kommen scheinen und erst sichtbar werden, wenn aus der Außenwelt keine Reize mehr durchdringen.
    Für andere Fälle als den drohenden Tod durch Ertrinken scheint die Hypothese der Halluzination auf den ersten Blick weniger plausibel. Gehirne von Menschen, die aus großer Höhe stürzen oder in den nächsten zwei, drei Sekunden einen Frontalzusammenstoß erleben, haben keinen Mangel an Sinnesreizen. Auf der anderen Seite: Albert Heim schrieb, er habe keinen Schmerz gefühlt, als seine Finger in den Schnee krallten und sein Kopf gegen Felsenspitzen stieß. Das einzige Sinnesorgan, das noch funktionierte, war das Gehör: Heim hörte den Schlag, mit dem er aufprallte. Vielleicht sind unter den extremen Umständen der Todesnot so viele Sinnesorgane betäubt oder ausgeschaltet, daß sich auch innerhalb weniger Sekunden eine spiegelnde Kulisse für Halluzinationen bilden kann.
    Was die Hypothese der Panoramaerinnerung als Halluzination unerklärt läßt, ist, warum die Bilder mit dem heiteren Gefühl einhergehen, alles sei in Ordnung. Wenn die Halluzination aus dem zusammengesetzt ist, was sich im Gedächtnis befindet, weshalb sind es dann vor allem die friedlichen, sorglosen Jugenderinnerungen, die in den letzten Momenten projiziert werden? Wo sind Schmerz, Kummer, Langeweile geblieben? Warum sieht das Gehirn im spiegelnden Fenster nur das Gute und Schöne? Die Hypothese von der Halluzination kann auch nicht erklären, warum der Wechsel der Bilder so schnell verläuft. Wie auch immer die erfahrene Reihenfolge der Bilder ist, chronologisch
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