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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Autoren: Douwe Draaisma
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seine Brille, an das, was er tun muß, wenn er aufschlägt, an seinen Bruder und an Freunde, an die Vorlesung, die nun ausfallen muß, die Reaktion seiner Familie auf die Nachricht von seinem Tod. Im freien Fall dringen keine Reize aus der Außenwelt mehr zu ihm durch. Seine Gedanken verlagern sich zu den Bildern, die er vor sich sieht und als Szenen aus seinem Leben erkennt. Seine Stimmung ist nun friedlich und gelassen. Die Bilder werden durch Assoziationen gelenkt, die er nicht selbst steuern kann, er ist ihnen passiv ausgeliefert, er ist nicht der Regisseur, sondern der Zuschauer. Er erinnert sich auch an ein tragisches Ereignis, aber er kann keinen Kummer dabei empfinden. Selbst der Gedanke an seine Mutter, die von einem Eilboten die Nachricht von seinem Tod erhält, hat nichts Beunruhigendes. Erinnerungen sieht er genauso klar vor sich wie die Phantasie über den Eilboten. In der heiteren Verzauberung des Augenblicks ist das normale Zeitempfinden verschwunden. Später weiß er noch nicht einmal mehr, ob die Bilder chronologisch oder rückwärts projiziert wurden. Der neuropharmakologischen Erklärung der Panoramaerinnerung zufolge ist Heim tatsächlich Zuschauer gewesen. Er sah in seinem Bewußtsein eine Vorstellung, deren Requisiten und Dekoration seinem eigenen Gedächtnis entstammten, aber die Regie lag in den Händen von Adrenalin, Endorphinen und spontan feuernden Neuronen im Schläfenlappen.
    In extremis
    Wer sich die angeführten Hypothesen noch einmal anschaut, sieht, daß man sich mit einer Handvoll Vermutungen, statistischen Zusammenhängen und suggestiven Analogien bescheiden muß. Daß die Ausschaltung von Sinnesorganen Halluzinationen hervorrufen kann, ist im Grunde eine Analogie, genauso wie die Depersonalisation, die bei einem traumatischen Ereignis auftreten kann, oder die Aura vor einem epileptischen Anfall. In all diesen Fällen ist die Analogie auch noch unvollständig, so daß jede Schlußfolgerung vom Typ »Panoramaerinnerung ist nichts anderes als ...« fehl am Platze ist. Wenn die psychischen oder neuro-physiologischen Mechanismen, die zur Erklärung angeführt werden, wirklich die kausale Kraft hätten, die ihnen ihre Anhänger zuschreiben, erhebt sich die Frage, warum nicht jeder in Lebensgefahr eine Panoramaerinnerung erfährt. Selbst unter den günstigen Umständen des Ertrinkens, wenn man sich so ausdrücken darf, hat nur eine Minderheit ein solches Panoramaerlebnis.
    Die Erklärungen, die zur Zeit in der Literatur kursieren, haben ihren Ursprung oft schon in medizinischer und neurologischer Arbeit aus dem neunzehnten Jahrhundert. Das gilt für die tröstende Kraft von Jugenderinnerungen in der Todesstunde (Win-slow), aber auch für die Kraft von Halluzinationen (Hughlings Jackson) oder den Zusammenhang mit epileptischen Symptomen (Fere). Spätere Forschung hat die Anregungen präzisiert und in manchen Fällen experimentell zugänglich gemacht. Entdeckungen wie die der natürlichen Opiate im Hirn und ihres Einflusses auf Gefühle haben hier und da auch eine gewisse Konvergenz im Hinblick auf sehr unterschiedliche Hypothesen gebracht. In der psychoanalytischen Erklärung Pfisters kamen keine Endorphine und spontan feuernden Neuronen vor, genauso wenig wie in der neurophysiologischen Erklärung verbannte Könige und Hotelportiers auftreten. Dennoch sagen beide Erklärungen voraus, daß auf das erste Entsetzen ein Gefühl von entspanntem Wohlbefinden folgen wird. Vielleicht hat Pfister mit seinen anschaulichen Personifikationen die psychologische Seite der fieberhaften pharmazeutischen Aktivitäten eines Gehirns in Krise skizziert.
    Wer glaubt, in wenigen Augenblicken sterben zu müssen, hat plötzlich wenig Zukunft und viel Vergangenheit. Er ist von einem Augenblick zum anderen ein Mensch in extremis. Bei manchen scheint sich unter diesen Umständen das Bewußtsein aufzuhellen.
    Ihre Erinnerungen bekommen eine bislang nie erfahrene Intensität. Sie >sehen< die Erinnerungen an einem Ort, wo sie noch nie zuvor gesehen wurden: vor ihren Augen, äußerlich, außen. In extrem kurzer Zeit ziehen so viele Bilder vorbei, daß das normale Bewußtsein für Dauer und Geschwindigkeit durcheinandergerät. Die Erinnerungen haben nicht mehr ihre vertraute emotionale Farbe und Bedeutung, sogar tragische Erinnerungen sind an der friedlichen Stimmung des Augenblicks beteiligt. Mit all diesen Abweichungen von den üblichen Erfahrungen sind auch die normalen, alltäglichen Ausdrucksmöglichkeiten
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