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Walküre

Walküre

Titel: Walküre
Autoren: Craig Russell
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die Lücke. Dann drückte sie wieder auf die Klingel der alten Frau.
    »Entschuldigung«, rief sie. »Falsche Adresse. Ich dachte, dies sei der Pöseldorfer Weg.« Nachdem die Beschwerde der alten Frau verklungen war, trat Anke ein und ließ die Tür sanft ins Schloss fallen. Einen Moment lang blieb sie stehen, holte Atem und lauschte auf die Geräusche einer misstrauischen alten Frau im Treppenhaus. Als sie sicher war, allein zu sein, stieg sie die Treppe zur ersten Etage hinauf. Sie fand die Wohnung mit den beiden Namen und knackte das Schloss.
    Im Innern schaute sie in jedes Zimmer, um sich zu überzeugen, dass die Wohnung auch wirklich leer war. Ihr Blick fiel auf den Fußboden: Sie hatte überall auf dem Korridor blutige Fußabdrücke hinterlassen. Das bedeutete, dass eine Spur, wahrscheinlich vom Auto her, die Treppe hinaufführte. Selbst wenn das Blut nicht sichtbar war, würde es einem Spürhund der Polizei leichtfallen, ihrer Fährte zu folgen. Sie musste sich beeilen.
    Im Schlafzimmer sah sie in den Kleiderschrank und inspizierte die Frauenkleidung. Sie war eine Nummer größer als ihre eigene, doch das spielte keine Rolle. Eine Nummer kleiner wäre untragbar gewesen. Anke traf unter den Hosen, Pullovern und Jacken eine rasche Auswahl. Auch fand sie eine Umhängetasche, die ihre eigene ersetzen konnte: kleiner, aber brauchbar.
    Das Badezimmer war winzig, und Anke musste sich an die Wand lehnen, während sie Schuhe, Hose und Strumpfhose abstreifte, wobei eine Blutpfütze auf dem Kachelboden entstand. Sie verdrehte die Wade, um sich die Wunde anzusehen. Die Kugel war nicht in ihrem Bein stecken geblieben, sondern hatte ein Stück Fleisch aus der Wade gerissen. Es gab keine Badewanne, doch Anke nahm den Duschkopf herunter und ließ heißes Wasser über die Wunde laufen, bevor sie ein Handtuch fest um das Bein wickelte. Dann leerte sie den Inhalt des Spiegelschranks ins Waschbecken, griff nach einem zweiten Handtuch und befeuchtete es mit Desinfektionsmittel. Eine Mullbinde steckte noch in der Hülle, doch sonst fehlte es an Verbandsmaterial. Anke kehrte ins Schlafzimmer zurück, fand in den Schubladen ein Päckchen Monatsbinden und nahm sie mit ins Badezimmer.
    Sie löste das Handtuch von ihrem Bein und drückte die mit Antiseptikum getränkte Binde auf die offene Wunde. Der Schmerz schien heiß und stechend zu explodieren, und sie unterdrückte einen Schrei, der hinter ihren zusammengebissenen Zähnen zu einem unmenschlichen Laut wurde. Nachdem sie eine neue Monatsbinde auf die Wunde gelegt hatte, wickelte Anke die Mullbinde um ihre Wade. Dann wusch sie sich die Hände und wischte sich den Schweiß vom Gesicht.
    Auf der Frisierkommode stand ein Foto, das vermutlich die beiden Bewohner des Apartments zeigte. Die Frau war hochgewachsen und schlank wie Anke und schien nur wenig größer als sie zu sein; aber sie hatte dunkles Haar und oliv getönte Haut, und ihr Make-up war kräftiger und dunkler. Anke verbrachte fünf Minuten vor dem Spiegel, um ihr Gesicht entsprechend umzuschminken. Danach zog sie die auf dem Bett ausgebreitete Kleidung an und zwängte sich unter der Hose in ein Paar knielange Stiefel. Es bereitete ihr Mühe, den Reißverschluss des linken Stiefels über der Wunde zu schließen, aber sie hoffte, dass der Verband dadurch weniger leicht verrutschen würde.
    Nachdem Anke ihre Kleidung gewechselt hatte – zu den neuen Sachen gehörten auch ein knöchellanger Mantel und eine Art Baskenmütze –, betrachtete sie sich im Spiegel. Eine andere Frau mit einem anderen Stil, einer anderen Biografie, einem anderen Leben.
    Bevor sie die Wohnung verließ, überlegte Anke, was sie mit ihrer ausrangierten Kleidung anfangen sollte. Ihre DNA würde an jedem Stück zu finden sein. Andererseits war ihre DNA nun in halb Hamburg zu finden. Diesmal gab es keine forensische Distanz.
    Es war vorbei, das wusste sie. Onkel Georg war höchstwahrscheinlich tot. Sie musste aus Hamburg verschwinden. Mehrere Identitäten standen ihr zur Verfügung, und sie besaß genug Geld, um für den Rest ihres Lebens versorgt zu sein. Vielleicht war dies ein Neubeginn. Die folgenden vierundzwanzig Stunden würden das zeigen.
    Anke verstaute die Beretta, die Magazine, ihr Polycarbonatmesser und das Päckchen Monatsbinden in der Umhängetasche. Sie trat ans Fenster und blickte auf die Straße hinunter. Hier war alles ruhig, doch sie hörte in den umliegenden Straßen Sirenen. Sie musste all den Aufruhr und Pöseldorf hinter sich
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