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Waldos Lied (German Edition)

Waldos Lied (German Edition)

Titel: Waldos Lied (German Edition)
Autoren: Petra Gabriel
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auf den heutigen Tag höre ich auf meinem rechten Ohr dadurch manchmal nur dumpf und ungenügend. Das ist in gewissem Sinn ein Segen. Es ist oft besser, ein harsches Wort oder den Spott der anderen nicht verstehen zu können.
    An jenem Spätnachmittag riss mich der Schlag indessen aus höchst angenehmen Gedanken an das Paradies und die Chöre der Engel. Danach sang, klingelte und brummte es nur noch so in meinem Schädel. Abt Warinharius, der Allmächtige sei seiner Seele gnädig, war trotz seines Leibesumfangs und seiner Herzensgüte nicht immer ein geduldiger Mann. Seine zornige Stimme dröhnte so laut durch das Gotteshaus, dass die Zeit den Klang seiner Worte von damals bis in meine Mönchszelle von heute trägt.
    »Waldo, du nichtsnutziger Faulpelz, träumst du schon wieder? Warum bist du nicht im Scriptorium, um deine Arbeit zu tun? Und wenn du schon hier bist, warum starrst du den Heiland an wie ein blöder Ochse, anstatt die Knie zu beugen und den Kopf vor ihm zu senken wie deine Mitbrüder hier? Oder warum hilfst du nicht wenigstens den anderen Brüdern und gehst in die Michaelskapelle, um letzte Hand mit anzulegen? Du weißt doch genau, dass in Kürze Bischof Beringer von Basel zusammen mit unserem gütigen Herrn Rudolf von Rheinfelden — den Gott beschützen möge — und seiner jungen, edlen Gemahlin hier eintreffen wird, um morgen unsere neue Michaelskapelle zu weihen? Dein Verstand ist ebenso kurz und krumm wie deine Beine. Vergiltst du uns auf diese Weise, dass die Mönche von St. Blasien dich als kränklichen Knaben aufgenommen, gepflegt und erzogen haben?«
    Heute muss ich lächeln im Gedenken an den gütigen Vater Abt, dem ich so viel verdanke. Als ich vom Gesinde der Burg des Rheinfelders in die Abtei gebracht wurde, war er noch ein einfacher Mönch, doch schon damals voll heiliger Überzeugungskraft. Er überredete seine Mitbrüder dazu, den verkrüppelten, kleinen verwahrlosten Jungen um der Liebe Gottes willen in die Gemeinschaft aufzunehmen. Bei den Mönchen ist der Glaube stark, aber manchmal auch der Aberglaube. Deshalb hielten einige der Brüder mich wegen meiner verkrüppelten Beine für eine Wiedergeburt des Leibhaftigen mit dem Klumpfuß. Es dauerte lange, bis sie sich nicht mehr bekreuzigten, wenn sie mich sahen.
    An jenem kalten, aber sonnigen und klaren Spätnachmittag rieb ich mir nur heftig das schmerzende Ohr und dachte nicht zum ersten Mal, dass Abt Warinharius mit Ohrfeigen ebenso schnell bei der Hand war wie mit deftigen Tiervergleichen. Denn einen Jungen, der gerade beginnt, sich als Mann zu fühlen, schmerzt es mindestens ebenso sehr wie eine Ohrfeige, wenn er ein Ochse genannt wird. Denn das ist, wie jeder weiß, ein entmannter Stier. Den Hinweis auf meine verkrüppelten, krummen Beine empfand ich als eine zusätzliche und unnötige Kränkung. Ich fühlte ihn wie einen Messerstich.
    Heute weiß ich, dass diese Beine nicht nur mein Fluch waren, sondern auch mein Segen. Ohne sie wäre ich vielleicht längst nicht mehr am Leben. Denn viele andere mit geraden Schenkeln und kräftigen Waden mussten in diesen kriegerischen Zeiten für die Habgier der Mächtigen in die Schlacht ziehen und krepierten elendiglich daran.
    Ich selbst war nur für geistige Gefechte zu gebrauchen. Ich musste schon früh meinen Verstand stärken, um da zu überleben, wo mein schwächlicher Körper allein nicht in der Lage war. Anfangs verbrannte ich mir oft das Maul wegen meiner frechen Reden. Ich lernte aber mit den Jahren, die Schärfe einer spitzen Zunge und die Kraft einer spöttischen Bemerkung als gute Waffe zu nutzen. Einiges davon lehrten mich die Frauen, ebenso schwache Geschöpfe wie ich.
    Doch an diesem Nachmittag, drei Tage nach dem Fest zur Geburt des heiligen Kindes, trottete ich stumm und gehorsam zur Torhalle des Turms an der Westseite der Kirche, in der bereits fast alles für die Weihe der neuen Michaelskapelle vorbereitet war. Damals jedenfalls hatte ich meine Fähigkeit zur Schlagfertigkeit noch nicht sehr weit entwickelt. Doch ich war noch nicht aus dem Gotteshaus heraus, da hörte ich auf einmal das Getrappel der Hufe vieler Pferde. Abt Warinharius ließ von mir ab und bekreuzigte sich mit unziemlicher Hast vor dem Sohn des Allmächtigen. Dann stürzte er mit einer für seinen Leibesumfang staunenswerten Behendigkeit hinaus auf den Vorhof, gefolgt von den beiden Brüdern.
    Ich tat es ihm, entgegen seiner Anweisung, gleich. Ich wollte nicht zu den Brüdern in die Michaelskapelle. Dort
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