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Wahr

Wahr

Titel: Wahr
Autoren: Riikka Pulkkinen
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nun mal nur fremde Blicke das Gefühl geben, wirklich zu existieren. Sie lächelt mich an. Ihr Name ist Danka, aber das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ihre linke Brust ein wenig kleiner ist als die rechte und dass ihre Beine mit winzigen roten Pünktchen übersät sind. Dass die Pünktchen von einer Rasur mit der Klinge ihres Freundes stammen, weiß ich nicht.
    Marc erzählt, dass er als kleiner Junge jeden Samstag mit seiner Mutter auf dem Markt Blumen und Brot gekauft hat. Sie wohnten im achtzehnten Arrondissement und mussten am Moulin Rouge vorbei. Wenn sie eine Prostituierte sahen, nahm Marcs Mutter ihn fest bei der Hand. Die Rosen vom Blumenstand waren rot, dasselbe Rot wie auf den Lippen der Frauen. Marc dachte lange, dass es anders nicht sein konnte, dass zwischen den Rosen und den Lippen ein Zusammenhang bestehen musste, von dem ihm nur noch keiner erzählt hatte.
    »Und so ist es auch«, sagt Marc. »Rot ist die Farbe der Schönheit, der Sinnlichkeit. Die Farbe der Liebe«, sagt er.
    Wir spazieren an den Kanälen entlang, setzen uns in ein Café, wechseln ins nächste. Wir essen Brot, Salat und Braten. Bestellen Wein, ohne auf den Preis zu achten.
    Marc lächelt und küsst mich und sagt »je t’aime«.
    Ich beginne ihm zu glauben, antworte ihm bereits.
    Er spielt Gitarre, improvisiert ein Lied über mich.
    »Ich gehe kurz zur Toilette, dann kannst du in Ruhe weiterkomponieren«, sage ich.
    »Bis dahin habe ich längst eine ganze Fangemeinde für mein Lied«, erwidert Marc.
    Als ich zurückkomme, ist Marc mitsamt Gitarre verschwunden. Auf dem Tisch steht unser schmutziges Geschirr. Auch meine Tasche ist verschwunden. Nicht nur das Geld, nein, die ganze Tasche. Das Tagebuch, das Bild von mir: verschwunden. Ich frage die Kellnerin, ob Marc ihr etwas gesagt hat, ob er gleich zurückkommt. Sie schüttelt den Kopf. Da entdecke ich den kleinen Zettel unter der Karaffe.
    Sei mir nicht böse. Ich bin pleite. Es waren schöne Tage mit dir. Peace & love, M.
    Benommen laufe ich auf die Straße. Nichts. Ich laufe bis zur nächsten Ecke und finde meine Tasche – leer. Das Geld lag zwischen den Tagebuchseiten, Marc hat gesehen, wie ich es hervorgeholt habe, in Kopenhagen, in Köln. Das Tagebuch ist nicht mehr da. Marc hat es genommen. Und zwar nicht nur das Geld darin, sondern das ganze Buch, mit dem Bild, mit all den Sätzen. Jeder einzelne Satz von mir ist verschwunden. Ich sinke zu Boden. Die Luft entweicht meinen Lungen, die Welt verschwindet im Abfluss.
    Den ganzen Tag stehe ich auf Brücken und bitte Passanten um Geld. Ich kaufe einen Kaffee und ein Brötchen, gehe kilometerweit zu Piets Wohnung und überlege, wie ich es Katariina erklären soll. In der schmutzigen Wohnung frage ich Catherine Deneuve um Rat. Aber was soll sie mir schon sagen, im Film hat sie sich an den Genuss verschwendet! Ich zähle das Geld, es wird eine Weile reichen, ich muss es Katariina erst in Paris sagen.Sie kommt spät in der Nacht.
    »Marc sehen wir nicht wieder«, sage ich knapp, mehr nicht.
    »Wieso das? Ihr habt so verliebt gewirkt!«
    »Das war keine Liebe. Es war irgendetwas anderes.«
    Katariina wirft mir einen kurzen Blick zu, den ich nicht deuten kann.
    Ich denke an mein Tagebuch, an die Zeichnung. Wieso habe ich sie mitgenommen? Hätte ich sie doch in der Pengerkatu gelassen. Jetzt befindet sich dort nichts als der alte Rock aus grobem Stoff. Ohne Funktion hängt er allein im Schrank.
    Wir besteigen den Zug. Mein Geld reicht für die Fahrkarte, vielleicht noch für ein Brötchen und einen Tee oder Saft. Ich werde es Katariina noch vor Paris sagen müssen.
    Nach Brüssel fängt es an. Mir ist schlecht, die Übelkeit kommt in Wellen, die Wände und Fenster stürzen auf mich herab. Ich krieche über den Fußboden, krümme mich zwei Mal über dem WC. Katariina tröpfelt mir Wasser in den Mund, so, wie ich früher unsere Kälber versorgt habe. Mein Mund ist reines Sandpapier, meine Lippen sind ausgetrocknet wie nach einer Wüstenwanderung.
    Wir passieren die Grenze zu Frankreich. Mein Kopf ist heiß, meine Glieder sind schwer. Meine Zunge schwillt an, meine Worte werden zu Brei. In meinem Kehlkopf kleben Sägespäne, und obwohl es warm ist und ich eine Decke habe, friere ich. Ich nicke ein, schrecke wieder auf. Spreche im Schlaf. Katariina holt mir aus dem Speisewagen einen Tee, der wie Feuer in meinem Hals brennt. Ich versuche, die Augen offen zu halten, aber sie sind fast zugeschwollen. Beim Blick in den Spiegel entdecke
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