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Wahnsinn

Titel: Wahnsinn
Autoren: Jack Ketchum
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sah sich das Schulzeugnis an. Harry machte keine Witze. Nur Einsen. Duggan gab ihm das Zeugnis zurück. Harry faltete es und schob es so behutsam in sein Hemd, als handelte es sich um eine Seite aus der Familienbibel.
    »Ich will Sie mal was fragen, Harry. Setzen Sie sich bitte. Wie läuft das Geschäft?«
    Harry setzte sich.
    »Ganz gut. Ist immer noch der einzige Laden in Ellsworth, wo man Bohnen und Stiefel kaufen kann. Ist immer noch ein weiter Weg für die Leute hier in die Stadt oder rüber nach Compton.«
    »Macht Ihnen das neue Einkaufszentrum an der 93 Konkurrenz?«
    »Ein bisschen, vielleicht.«
    »Wie kommt’s, dass der Junge nicht bei Ihnen arbeitet, Harry?«
    »Wir hatten vor, ihn nächstes Jahr aufs College zu schicken.«
    »Das können Sie sich leisten?«
    »Ja, wir glauben schon.«
    Duggan sah zuerst den Jungen und dann den Vater an. Der Junge fläzte sich in seinen Stuhl, zog die Stirn kraus und blickte grimmig. Er vermutete, dass es dem Jungen nicht viel ausmachte, dass er erwischt worden war. Sein Vater beugte sich über den Schreibtisch zu Duggan. Aus welchem Grund auch immer erinnerte er Duggan an einen Hund, der auf eine Belohnung aus war – wie er ihn jetzt mit traurigen großen Augen anblickte. Tja, heute Abend würde es leider keine Belohnung für ihn geben.
    Er griff in seine Tasche und zog das große, rote Schweizer Offiziersmesser heraus.
    »Die führen Sie doch in Ihrem Laden, oder?«
    »Klar führ ich die.«
    »Und wie viel kosten die so in etwa?«
    »In der Ausführung vielleicht fünfundzwanzig, sechsundzwanzig Dollar.«
    »Wie kommt Arthur dann dazu, dieses Messer in Beckers Laden zu stehlen?«
    Harry sah untröstlich aus. Er schüttelte den Kopf.
    »Genau. Dachte ich mir. Ich weiß es auch nicht«, sagte Duggan.
    Er ließ den Satz eine Weile im Raum stehen. Mehr konnte er im Moment sowieso nicht tun.
    »Tatsache ist, dass Becker keine Anzeige erstattet. Ich muss Ihnen sagen, dass mir das persönlich gegen den Strich geht, aber der alte Becker kennt Sie und respektiert Sie, Harry. Schließlich waren Sie beide all die Jahre so ziemlich in derselben Branche. Wenn es nach mir ginge, würde ich den Jungen dem Jugendrichter vorführen. Wir beide wissen, dass das nicht das erste Mal ist, dass er in Schwierigkeiten geraten ist, auch wenn wir ihm bislang nichts nachweisen konnten.«
    Er hörte, wie der Junge etwas vor sich hin brummte.
    »Wie bitte?«
    »Ich hab bloß gesagt … Sie haben mich nie …«
    »So ist es. Wir haben dich nie. Aber ich sag dir was, Kleiner: Ich musste dich nur einmal ansehen, um zu wissen, dass du für den Einbruch letzten Sommer verantwortlich warst. Versuch nicht, mir mit so einer Scheiße zu kommen. Dafür habe ich selbst weiß Gott genug Scheiße verzapft. Aber Recht hast du. Wir haben dich nie. Aber irgendwann, irgendwann ist es so weit. Darauf kannst du deinen Einserschüler-Arsch verwetten. Irgendwann ist es so weit.«
    Er sah Harry an. Harry erinnerte Duggan immer noch an denselben alten Hund, bloß dass der Hund jetzt auch noch Prügel bezogen hatte.
    Woher kam bloß diese verfluchte Versuchung, diesen Mann dauernd um Entschuldigung bitten zu wollen?
    »Sie können ihn mit nach Hause nehmen, Harry. Grüßen Sie Ruth von mir.«
    Er hielt ihnen die Tür auf. Der Junge ging vor, schlaksig und mit schnellen Schritten. Sein Vater folgte in langsamerem Tempo, ein paar Schritte hinter ihm. Sie hätten zwei Fremde sein können, die zufällig zur selben Zeit denselben Korridor hinuntergingen.
    Duggan streckte den Kopf aus dem Glaskasten.
    »He, Harry!«
    Er blieb stehen und drehte sich um. Sein Sohn ging weiter, zur Tür hinaus.
    »Welches College, Harry? Wohin geht er?«
    »Boston University. Boston, Massachusetts.«
    Er sagte es in einem Ton, der sich in Duggans Ohren fast nach Stolz anhörte. Duggan nickte.
    »Schön, viel Glück, Harry.«
    Er sah zu, wie der Mann wegging. Dann zündete er sich eine Zigarette an und setzte sich wieder an den Schreibtisch.
    Er fragte sich, ob er Arthur Danse heute zum letzten Mal gesehen hatte. Wahrscheinlich. Der Junge würde im Herbst aufs College gehen. Er konnte nicht behaupten, dass er das auch nur im Geringsten bedauerte.
    Boston University. Diese Hochschule hatte einen guten Ruf, das wusste sogar Duggan. Wenigstens dafür musste er Harrys Jungen Respekt zollen.
    Trotzdem – Arschloch bleibt Arschloch, dachte er.
    Aber vermutlich war Arthur jetzt Bostons Problem.

3 Wegkreuzungen
    Boston, Massachusetts ∙ September
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