Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wachsam

Wachsam

Titel: Wachsam
Autoren: Carre
Vom Netzwerk:
gleich jetzt an das Klima. Er hatte, nach seinen Maßstäben, eine lange Fahrt zurückgelegt, um die dreißig Meilen; wollte er wahrhaftig wieder umkehren, nur wegen einer kleinen Brise? Entschlossen knöpfte er den Kragen zu und schritt allen Ernstes zur ersten Etappe seiner Inspektion.
     
    Er nannte dieses Verfahren die Atmosphäre auf sich wirken lassen . Er hatte es oft geübt: Es galt, viele unwägbare Details zu testen. Die ganze Anlage zum Beispiel, ist sie feindselig oder freundlich? Bietet sie liebsame Abgeschlossenheit oder unliebsames Abgeschnittensein? Umhegt sie den Bewohner oder setzt sie ihn aus? Könnte man sich vorstellen – eine entscheidende Frage –, daß er hier geboren wäre?
    Trotz der Kälte waren seine ersten Eindrücke nicht unvorteilhaft. Der Park, der die Aussicht von den Vorderfenstern des Hauses bilden müßte, hatte eine üppige ländliche Note, etwas entschieden Beruhigendes. Die Bäume waren Laubbäume (ein ausgesprochener Glücksfall, denn insgeheim fand er Nadelbäume zu düster), und ihr hohes Alter verlieh ihnen väterliche Milde.
    Er lauschte.
    Der Wind hatte nachgelassen, und die Saatkrähen beruhigten sich allmählich. Vom Moor herüber, auf dem immer noch der Meeresnebel haftete, wetteiferte das Raspeln einer Handsäge mit dem Muhen des Viehs. Er musterte die Weiden. Gute Umzäunung, reichlich Platz für Ponys, vorausgesetzt, daß hier keine Eiben wuchsen und sie vergifteten. Er hatte irgendwo gelesen, vermutlich bei William Cobbett, dessen Buch Rural Rides er für sein Abschlußexamen durchgearbeitet hatte, daß diese Bäume für Ponys Gift seien, und diese sinnlose Grausamkeit der Natur hatte sich seinem Gedächtnis eingeprägt.
    Palaminos, so hießen sie.
    Ich werde Palaminos halten. Brauchen kein Dach über dem Kopf, die Kastanienbäume liefern das Dach. Die Waliser sind die besten: zähe Biester, hieß es allgemein, genügsam und billig in der Haltung. Auch von der richtigen Gemütsart: Stadtleute konnten mit ihnen umgehen, ohne daß Vergeltungsmaßnahmen zu befürchten waren. Er schnupperte.
    Holzrauch, feuchte Tannennadeln und der undefinierbare dumpfe Geruch, den Vernachlässigung erzeugt. Er hatte nichts daran auszusetzen.
    Und schließlich wandte er – äußerlich ganz kühl – sich und sein kritisches Augenmerk dem Hause zu. Tiefes Schweigen hatte sich über den Hügelkamm gesenkt. In den Bäumen regte sich nichts. Das Hemd hing träge von seinem Kabel. Minutenlang blieb er stehen wie im Gebet, die behandschuhten Hände lose über dem Magen gefaltet, die Schultern stramm zurückgezogen, den blonden Kopf leicht zur Seite geneigt, der Überlebende am Grabe der gefallenen Kameraden.
    Im Abendlicht seines neununddreißigsten Lenzes blickte Aldo Cassidy auf ein geballtes Dutzend englischer Generationen.
    Noch während er dort stand, schwand das Licht. Rote Pfeile blitzten von der verbogenen Wetterfahne herab, strichen über die Glasreste in den Schiebefenstern und waren verschwunden. Ein Fels, dachte er, mit einem Schwall stolzen viktorianischen Purpurs. Ein Berggipfel vor dem Abendhimmel, unbezwinglich, unvergänglich, zu lebendigem Stein gewordene englische Geschichte. Ein Fels, wiederholte er, und sein romantisches Herz hämmerte halbvergessene Verse aus der englischen Heldenlyrik; ein Stück des Herzens, dessen Name England ist. Ein Fels, gemeißelt von der Hand der Zeiten, von Gottes Mauerleuten zubehauen, bewacht von seinen Scharen.
    Wieviel gäbe ich darum, in einem solchen Haus geboren zu sein! Um wieviel größer, wieviel tapferer könnte ich dann sein! Von einem solchen Denkmal heroischer Zeitalter Namen, Glauben, Ahnenreihe, ja sogar den Beruf herzuleiten: noch immer Kreuzritter sein, nicht nur durch Mut, durch Demut vielmehr einer Sache dienen, die über allen Worten steht? In meinem eigenen Burggraben schwimmen, in meinem eigenen Küchentrakt kochen, in meiner eigenen großen Halle speisen, meiner eigenen Zelle meditieren? In meiner eigenen Gruft herumspazieren, unter den bleizerfetzten Fahnen meiner Ahnherren; Landpächtern Brot geben, widerspenstiges Gesinde zur Räson bringen, und dies in wohlig abgetragenem Tweed bis an mein kühles Grab?
    Vor dem inneren Auge des Träumers baute sich ein Bild auf:
    Ein Weihnachtsabend , kahl stehen die Bäume vor dem frühen Sonnenuntergang . Die einsame Gestalt , kein Jüngling mehr , in teueren , aber unauffälligen Kleidern , reitet durch die langen Schatten der Kastanienallee . Das Pferd , wohl wissend , welch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher