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Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss

Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss

Titel: Vorzeitsaga 04 - Das Volk vom Fluss
Autoren: Kathleen O'Neal Gear , W. Michael Gear
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anzupassen. Zu große Mühe. Sie ist schon immer anders gewesen. Nie spielt sie mit den anderen
    Kindern. Sie ist auf ewig in ihre Seele eingeschlossen, spricht mit Geistern, die niemand außer ihr sieht. Es ist meine Schuld, ich bin die Erbin des Schildkrötenbündels.
    Im Gegensatz zu ihr selbst waren Schafgarbes Mutter und ihre Großmutter große Schamaninnen gewesen. Wie es der ältesten Tochter gebührte, hatte sie das heilige Bündel geerbt, aber es war ihr nie gelungen, ihm Leben einzuhauchen und seine Macht freizusetzen. Nur Nachtschatten schien die Stimme des Bündels zu hören. Manchmal stand das kleine Mädchen mitten in der Nacht auf, lauschte dem Bündel und erzählte ihm all die kindlichen Geheimnisse, die sie eigentlich ihrer Mutter hätte anvertrauen sollen.
    Und Vater Sonne wußte, wie sehr Schafgarbe sich nach dem Vertrauen und der Gesellschaft ihrer Tochter sehnte. Seit dem Tod ihres Mannes im vergangenen Herbst fühlte sie sich einsamer, als sie je zugeben würde. Der Verlust des geliebten Menschen hatte eine unaufhörlich blutende Wunde in ihrem Innersten aufgerissen. Seltsamerweise schien sich Nachtschatten kaum bewußt zu sein, daß ihr Vater aus ihrem Leben verschwunden war. Schafgarbe, darüber sehr bekümmert, konnte das kleine Mädchen jedoch nicht zwingen, der schrecklichen Wahrheit ins Gesicht zu sehen, war sie doch selbst kaum dazu imstande.
    Über den Bergen begann sich der rosafarbene Schimmer der Abenddämmerung zu einem tiefen Purpurrot zu verfärben, glühte noch einmal violett auf und wurde von dem alles verzehrenden Bauch des Himmelsjungen verschlungen. Vereinzelte Sterne spähten bereits durch den dunkler werdenden Mantel der Nacht. Mit zunehmender Finsternis verstärkte sich der würzige Geruch der Kiefern und des Wacholders. Tief atmete Schafgarbe die Abendluft ein. Der intensive Duft besänftigte den in ihrem Körper tobenden Schmerz.
    Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie Tag und Nacht gearbeitet, Kleider genäht, Essen zubereitet und sorgsam darauf geachtet, daß ihre Stammesangehörigen sämtliche zeremoniellen Gebote befolgten.
    Schafgarbe gehörte dem Hohlhuf-Volk an, dem Hüter des heiligen Schildkrötenbündels. Ihr Volk mußte untadeliges Vorbild für die anderen Stämme der Gemeinschaft sein und deshalb besonders gewissenhaft auf die Einhaltung der Rituale achten. Schon die kleinste Verletzung der Essensvorschriften oder ein unkontrollierter Gefühlsausbruch konnte das Bündel dazu veranlassen, sich vom Volk abzuwenden. Sollte dieser schreckliche Fall eintreten, fiele kein Regen mehr, die fruchtbare Erde würde verweht und mit ihr die Ernte, und das Schicksal der Menschen wäre besiegelt.
    Schafgarbe zwang sich, ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Maistanz zu richten. Sie wollte nicht mehr an das Bündel oder an seine ständigen Ansprüche denken. Ihr widerstrebte es, sich um sein Wohlergehen zu kümmern, es allmorgendlich in Süßgras zu räuchern, jeden Morgen und jeden Abend mit Maispollen zu bestäuben und für sein Wohlbefinden zu singen.
    Beschämt mußte sich Schafgarbe eingestehen, daß sie sich ohne Nachtschattens nie nachlassende Sorge um die rituellen Vorschriften herumgedrückt hätte.
    Die Tänzer verharrten kurz, schwärmten erneut aus und formten einen riesigen Kreis. Sie hakten sich unter und begannen mit den Füßen zu stampfen. Mit ruckartigen Bewegungen hüpften sie auf und nieder. Ein heiseres Trillern ertönte, schwoll an und hallte durch die Nacht wie das Zwitschern eines Schwarms neugeborener Wiesenlerchen.
    Die wachsende Erregung schwebte körperlich spürbar in der warmen Nachtluft. Immer lauter schwangen sich die melodisch trillernden Flöten und die singenden Stimmen zum Himmel empor.
    Hunderte stampfender Füße erschütterten die Erde mit der Macht von Donnervogels gewaltigem Dröhnen und bereiteten die Welt auf den Einzug der Götter vor.
    Die Melodie der Flöten erhob sich klagend und senkte sich schließlich zu einer tiefen, unheilverkündenden Tonlage herab. Lachend traten die alten Leute wieder aus den Türöffnungen und kauerten sich vor der halbkreisförmigen Hauswand nieder. In ihren hellen Umhängen und den schneeweißen Hirschhautstiefeln ähnelten sie unheimlichen Gespenstern.
    »Es ist bald soweit!« rief Kranichmädchen begeistert.
    »Ich hole das Bündel, sonst bin ich nicht rechtzeitig zurück.«
    Schafgarbe stützte sich mit einer Hand an der Wand ab, preßte die andere auf ihren gewölbten Leib und erhob sich mühsam. Mit den
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