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Vortex: Roman (German Edition)

Vortex: Roman (German Edition)

Titel: Vortex: Roman (German Edition)
Autoren: Robert Charles Wilson
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Landmarken dienten. Bis zum Vormittag hatte sich der Nebel gelichtet, und bis Mittag hatten sich auch die Wolken verzogen. Wir hörten das Meer.
    Treya war redselig, vermutlich weil sie mit irgendwelchen Medikamenten vollgepumpt war. (Sie hatte sich die Ampulle bereits zweimal an den Arm gesetzt.) Offensichtlich benutzte sie diese Mittel als Kompensation für das fehlende »Netzwerk«, was immer das bedeutete. Und genauso offensichtlich war, dass ihr Problem schlimmer wurde. Kaum hatten wir das Lager abgebrochen, begann sie zu reden. Nicht dass wir uns unterhalten hätten, nein, sie hielt einen nervösen, geistesabwesenden Monolog, den ich zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort für einen Kokain-Monolog gehalten hätte. Ich hörte genau hin und unterbrach sie nicht, obwohl die Hälfte davon keinerlei Sinn ergab, und immer, wenn sie für einen Augenblick verstummte, kam mir der Wind in den Bäumen lauter vor.
    Sie erzählte, sie sei in einer Arbeiterfamilie im leewärtigen Viertel von Vox-Core zur Welt gekommen. Mutter und Vater seien mit einem »neuralen Interface« ausgerüstet gewesen, das sie befähigte, einige anspruchsvolle Jobs auszuführen wie »Infrastrukturen warten oder neuartige Instrumente implementieren«. Sie gehörten zwar einer niedrigeren Kaste an als die »Manager«, seien aber sehr stolz auf ihre Vielseitigkeit. Treya selbst war von Geburt an dafür ausgebildet worden, sich einer Gruppe von Therapeuten, Wissenschaftlern und Ärzten anzuschließen, deren einzige Aufgabe darin bestand, sich mit den Überlebenden zu befassen, die man in der äquatorianischen Wüste auflas. Als »Verbindungstherapeutin«, die ausschließlich mir zugedacht war (und nicht mehr über mich wusste, als man in den historischen Aufzeichnungen festgehalten hatte: Name und Geburtsdatum und die Tatsache, dass ich in einem »temporalen Torbogen« verschwunden war), musste sie eine Umgangssprache erlernen, wie man sie vor zehntausend Jahren gesprochen hatte.
    Sie hatte sie über das Netzwerk gelernt. Doch dieses Netzwerk hatte ihr nicht nur die Sprache, sondern eine komplette zweite Identität vermittelt: einen Komplex an Erinnerungen, nach Dokumenten des 21. Jahrhunderts erstellt und in die interaktiven Netzknoten gespeist, die man ihr gleich nach der Geburt aufs Rückenmark gepfropft hatte. Sie nannte diese zweite Persönlichkeit eine »Impersona« – nicht nur ein Lexikon, sondern ein Leben mit all seinem Kontext an Orten und Menschen, Gedanken und Gefühlen.
    Die Hauptquelle, aus der man sich bedient hatte, um Treyas Impersona zu konstruieren, war eine Frau namens Allison Pearl gewesen. Allison war kurz nach dem Spin in Champlain, New York, zur Welt gekommen. Ihr Tagebuch war als historisches Dokument erhalten geblieben, und das Netzwerk hatte daraus Treyas Impersona geschneidert. »Immer, wenn ich ein englisches Wort brauche, ist Allison zur Stelle. Sie hat Wörter geliebt. Sie hat es geliebt, sie aufzuschreiben. Wörter wie ›Orange‹. Eine Frucht, die ich nie gesehen oder geschmeckt habe. Allison liebte Orangen. Was ich von Allison bekomme, ist das Wort und das Bild, die Form und Textur und Farbe einer Orange, nicht der Geschmack oder der Geruch. Doch solche Erinnerungen sind nicht ungefährlich. Man muss auf sie aufpassen. Ohne das Netzwerk und seine neuralen Regeln bildet Allisons Persönlichkeit Metastasen. Ich versuche mich zu erinnern und stoße auf ihre Erinnerungen. Das ist … verwirrend. Und es wird immer schlimmer. Die Medikamente helfen zwar, aber nur eine Zeit lang …«
    Das alles und noch mehr erzählte Treya, und soweit ich es beurteilen konnte, schien sie die Wahrheit zu sagen. Ja, ich glaubte ihr. Ich glaubte ihr, weil sie in dieses amerikanische Näseln verfiel und Redewendungen gebrauchte, die unmittelbar aus Allison Pearls Tagebuch hätten stammen können. Es erklärte auch das Lied, das sie fast schon zwanghaft gesummt hatte, ihre zwischenzeitliche Zerstreutheit, die Art, wie sie manchmal ins Leere blickte, den Kopf gereckt, als lausche sie einer Stimme, die ich nicht hören konnte.
    »Ich weiß, diese Erinnerungen sind nicht real. Sie sind Produkte aus Netzwerklogik und uralten, aufbereiteten Daten, aber allein so darüber zu reden, kommt einem merkwürdig vor, als … als …«
    »Ja?«
    Sie drehte sich um und sah mich an. Vielleicht hatte sie eben erst bemerkt, dass sie laut redete. Ich hätte sie nicht unterbrechen sollen.
    »… als würde ich nicht hierher gehören. Als wäre das alles
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