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Vorn

Titel: Vorn
Autoren: Andreas Bernard
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ununterbrochen auf sie einredete. Es war
     sehr laut vor dem Gebäude, noch immer wimmelte es von Menschen, aber die Stimme des Mädchens war so schneidend, dass Tobias
     von Zeit zu Zeit |243| ein paar Wortfetzen mitbekam. Sie erzählte Franzi offenbar von der bevorstehenden Trennung von ihrem Freund; vier Jahre lang
     habe alles toll funktioniert, doch in den letzten Monaten sei es immer eingefahrener, immer routinierter geworden, bis sie
     dann neulich diesen Yves aus Frankreich in der Uni-Cafeteria kennengelernt hätte. Und jetzt sei sie wirklich fast so weit,
     einfach alles stehen zu lassen und mit ihm nach Paris zu gehen. Tobias versuchte gerade, sich dem Monolog neben ihm zu entziehen
     und wieder mit Dennis und Daniel ins Gespräch zu kommen, als sich plötzlich Anne zu ihnen setzte. »Kennt sich von euch irgendjemand
     mit Handlesen aus?«, fragte sie. »Wir haben da drinnen so eine Auseinandersetzung: Carla meint, man würde beim Handlesen grundsätzlich
     die linke Hand nehmen; Fanny sagt, das sei Unsinn, es gehe nur mit der rechten.« Tobias, betrunken wie er mittlerweile war,
     sagte auf einmal aus einer Laune heraus: »Ja, da weiß ich zufällig bisschen Bescheid. Ich hab mich mal länger damit beschäftigt,
     für einen Artikel. Fanny hat recht: Für die ernstzunehmenden Handleser gilt nur die rechte Hand. Das hat mit den Energieströmungen
     im Körper zu tun.« Die anderen reagierten erstaunt, glaubten ihm aber seltsamerweise. »Was du alles weißt«, sagte Anne noch
     belustigt und ging wieder in die Halle hinein.
     
    Die Runde löste sich auf, Dennis und Daniel liefen Anne hinterher, doch Franzis Bekannte hatte sich neben Tobias gesetzt und
     sagte: »Hallo, ich bin Sabine, ich studiere mit der Franzi. Sag mal, stimmt das wirklich, was ich gerade aufgeschnappt habe?
     Du bist Handleser?« Tobias, der jetzt nicht zurückrudern wollte, bejahte |244| das möglichst teilnahmslos, und Sabine sagte: »Ja, also, weißt du: Mich würde das schon sehr interessieren, was du da rausfindest
     bei mir. Könntest du mir vielleicht den Gefallen tun und mir kurz aus der Hand lesen?« Und Tobias nahm Sabines Hand, die sie
     ihm ein wenig nervös, aber auch sehr vertrauensvoll entgegenhielt. »Immer die rechte«, sagte er noch einmal, bevor er den
     Blick senkte, »es gibt zwar schon einige Schulen, die das anders sehen, aber das sind meines Erachtens Scharlatane.« Er hatte
     natürlich nicht die geringste Ahnung davon, was es mit dem Handlesen auf sich hatte; das Einzige, was er einmal gehört hatte,
     war, dass die drei deutlichsten Linien auf der Handfläche bei fast allen Menschen ein M bildeten. Sonst wusste er nichts.
     Doch er hatte sich genug von Sabines derzeitigen Problemen anhören müssen, um sie mit seinen Analysekünsten beeindrucken zu
     können. Langsam fuhr er über ihre Handfläche, hielt immer wieder inne, als müsse er sich konzentrieren, verstärkte an einigen
     Stellen kurzzeitig den Druck. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Franzi, die sofort alles durchschaut hatte, sich aber charmanterweise
     nichts anmerken ließ. Dann begann Tobias zu sprechen: »Also, Sabine, ich kann nicht viel sagen, weil das Ganze doch sehr improvisiert
     ist und ich eigentlich ein bisschen mehr Vorbereitung brauche. Aber erkennst du die beiden Linien hier, diese Kreuzung fast
     in der Mitte deiner Handfläche?« Er zeigte auf eine deutlich sichtbare Linie, die sich waagerecht von links nach rechts zog,
     und auf eine schmale, die von unten links nach oben rechts verlief und nach dem Aufeinandertreffen mit der tieferen plötzlich
     abbrach. Sabine, mit merklich leiserer Stimme jetzt, sagte: »Ja, die sehe |245| ich gut«, und Tobias redete weiter. »Es ist so: Die feinere Linie nennt man ›Lebenslinie‹, den Begriff hast du bestimmt schon
     mal gehört. Sie hat bei dir lange Zeit klar und unbehelligt nach rechts oben geführt. Das gibt mir zu der Vermutung Anlass,
     dass die letzten paar Jahre deines Lebens ziemlich ausgeglichen und glücklich waren. Vielleicht sogar ein bisschen zu ausgeglichen,
     oder? »Ja, stimmt. Wahnsinn, stimmt wirklich«, sagte Sabine mit einem Lächeln in Richtung Franzi. »Okay, und jetzt sehe ich
     also diese tiefe Linie von links. Eigentlich müsste diese Linie, sie heißt« – Tobias erfand schnell einen Begriff –, »sie
     heißt ›Betalinie‹ – eigentlich wäre es üblich, dass diese Betalinie in der Mitte der Handfläche eine Kurve macht und dann
     parallel zur Lebenslinie
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