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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost
Autoren: Henning Mankell
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mit zwei anderen die Kolonie verlassen hätte, um zwei verschwundene Kühe zu suchen. Als er sich von Maria und ihrer Tochter verabschiedete, hatte er keinerlei Vorahnung einer drohenden Gefahr. Erst als sie auf die gegenüberliegende Seite der Schlucht gekommen waren, die die äußere Grenze zwischen der Kolonie und dem umgebenden Urwald darstellte, hatte er begriffen, daß etwas passierte.
    Sie waren stehengeblieben, als sie aus der Kolonie Schüsse hörten, vielleicht hatten sie auch durch das laute Vogelgezwitscher, das sie umgab, Schreie von Menschen wahrgenommen. Sie hatten sich angesehen und waren in die Schlucht zurückgelaufen. Er hatte die beiden anderen aus den Augen verloren, er war nicht einmal sicher, ob sie nicht plötzlich beschlossen hatten zu fliehen. Als er aus dem Schatten der Bäume trat und über den Zaun zu dem Teil der Volkstempelkolonie kletterte, der von der großen Fruchtplantage eingenommen wurde, war es still. Viel zu still. Niemand pflückte irgendwelche Früchte. Es waren überhaupt keine Menschen zu sehen. Er lief zu den Häusern und begriff, daß etwas Furchtbares geschehen war. Jim war wieder herausgekommen. Er hatte die geschlossene Tür aufgestoßen. Aber er war nicht mit Liebe gekommen, sondern mit dem Haß, der immer öfter in seinen Augen zu sehen gewesen war.
    Er merkte, daß er einen Krampf bekam, und drehte vorsichtig den Körper. Die ganze Zeit horchte er nach den Hunden. Aber er hörte nur das Knirschen der Heuschrecken und das Schwirren von Nachtvögeln, die über seinem Kopf dahinstrichen.
Was hatte er vorgefunden?
Als er durch die verlassene Fruchtplantage gelaufen war, hatte er versucht, das zu tun, was Jim immer als die einzige Möglichkeit des Menschen bezeichnet hatte, die große Gnade zu finden. Sein Leben in Gottes Hand zu legen. Jetzt hatte er sein Leben und sein Gebet in Gottes Hand gelegt:
Was auch geschehen ist, laß Maria und das Mädchen unverletzt sein.
Aber Gott hatte ihn nicht gehört. Er erinnerte sich, in seiner Verzweiflung gedacht zu haben, daß vielleicht Gott und Jim Jones die Schüsse aufeinander abgegeben hatten, die sie jenseits der Schlucht gehört hatten.
    Es war, als stürmte er geradewegs auf die staubige Straße in Jonestown, wo Gott und Pastor Jim Warren Jones sich gegenüberstanden, um die letzten Schüsse aufeinander abzufeuern. Aber Gott hatte er nicht gesehen. Jim Jones war dagewesen, die Hunde hatten wie wahnsinnig in ihren Zwingern gebellt, und überall auf der Erde hatten Menschen gelegen, und er hatte sogleich gesehen, daß sie tot waren. Als seien sie von einer vom Himmel herabkommenden wütenden Faust niedergestreckt worden. Jim Jones und seine engsten Mitarbeiter, die sechs Brüder, die ihn immer begleiteten, seine Diener und Leibwächter, waren herumgegangen und hatten Kinder erschossen, die versuchten, von ihren toten Eltern fortzukriechen. Er war zwischen all diesen toten Körpern herumgelaufen und hatte nach Maria und dem Mädchen gesucht, ohne sie zu finden.
    Als er Marias Namen brüllte, hatte Jim Jones nach ihm gerufen. Er hatte sich umgedreht und gesehen, daß sein Pastor eine Pistole auf ihn gerichtet hielt. Sie standen zwanzig Meter voneinander entfernt, zwischen ihnen auf der versengten Erde lagen die Toten, seine Freunde, zusammengekrümmt und wie verkrampft in ihren letzten Atemzügen. Jim hatte mit beiden Händen den Pistolenkolben gehalten, gezielt und abgedrückt. Der Schuß hatte ihn verfehlt. Bevor Jim zum zweitenmal schießen konnte, war er losgerannt. Mehrere Schüsse waren noch auf ihn abgegeben worden, und er hatte gehört, wie Jim vor Wut brüllte. Aber er war nicht getroffen worden, war über all die Toten hinweggestolpert und erst stehengeblieben, als es schon dunkel geworden war. Da war er unter den Baum gekrochen und hatte sich versteckt. Er wußte nicht, ob er der einzige Überlebende war. Wo waren Maria und das Mädchen? Warum sollte er allein verschont werden? Konnte ein einzelner Mensch den Jüngsten Tag überleben? Er begriff nicht. Doch er wußte, daß es kein Traum war.
    Der Morgen dämmerte. Die Hitze stieg dampfend von den Bäumen auf. Da wußte er, daß Jim seine Hunde nicht loslassen würde. Er zog sich vorsichtig unter dem Baum hervor, schüttelte seine eingeschlafenen Beine und kam hoch. Dann ging er in die Richtung der Kolonie. Er war sehr erschöpft und wankte, starker Durst quälte ihn. Immer noch war alles still. Die Hunde sind tot, dachte er. Jim hatte gesagt, daß keiner entkommen
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