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von Schirach, Ferdinand

von Schirach, Ferdinand

Titel: von Schirach, Ferdinand
Autoren: Verbrechen
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Schwurgerichtskammer war ein erfahrener Mann. Er kannte Fähner,
über den er zu richten hatte. Und er kannte Ingrid. Falls er sie nicht genügend
gekannt hatte, gaben die Zeugen Auskunft. Jeder bedauerte Fähner, jeder ergriff
für ihn Partei. Der Postbote sagte, er habe Fähner >für einen Heiligen<
gehalten, >wie er es mit der ausgehalten< habe, sei >ein Wunder<.
Der Psychiater bescheinigte Fähner einen >Affektstau<, schuldunfähig sei
er nicht gewesen.
     
    Der Staatsanwalt beantragte
acht Jahre. Er ließ sich Zeit, er schilderte den Tatablauf und watete durch das
Blut im Keller. Dann sagte er, Fähner habe Alternativen gehabt, er hätte sich
scheiden lassen können.
    Der Staatsanwalt irrte, genau
das hätte Fähner nicht gekonnt. Die letzte Reform der Strafprozessordnung hat
den Eid als obligatorische Beteuerung einer Aussage im Strafprozess abgeschafft.
Wir glauben schon lange nicht mehr daran. Wenn ein Zeuge lügt, lügt er eben -
kein Richter denkt ernsthaft, das würde sich durch einen Eid ändern lassen. Dem
modernen Mensch scheint der Schwur gleichgültig zu sein. Aber, und in diesem
>aber< liegt eine Welt, Fähner war kein moderner Mensch. Sein
Versprechen war ernsthaft. Es hatte ihn sein ganzes Leben gebunden, mehr noch:
Er wurde zum Gefangenen. Fähner konnte sich nicht befreien, das wäre Verrat gewesen.
Die Gewalteruption war das Bersten des Druckbehälters, in den er lebenslang
durch seinen Eid eingesperrt war.
     
    Fähners Schwester, die mich um
die Verteidigung ihres Bruders gebeten hatte, saß im Zuschauerraum. Sie
weinte. Seine alte Praxisschwester hielt ihre Hand. Fähner war im Gefängnis
noch dünner geworden. Er saß regungslos auf der Anklagebank aus dunklem Holz.
     
    In der Sache gab es nichts zu
verteidigen. Es war ein rechtsphilosophisches Problem: Was ist der Sinn von
Strafe? Weshalb strafen wir? Im Plädoyer versuchte ich den Grund zu finden. Es
gibt eine Fülle von Theorien. Strafe soll uns abschrecken, Strafe soll uns
schützen, Strafe soll den Täter davon abhalten, nochmals eine Tat zu begehen,
Strafe soll Unrecht aufwiegen. Unser Gesetz vereinigt diese Theorien, aber
keine passte hier richtig. Fähner würde nicht erneut töten. Das Unrecht der Tat
war offensichtlich, aber es war schwer zu wiegen. Und wer wollte Vergeltung
üben? Es wurde ein langes Plädoyer. Ich erzählte seine Geschichte. Ich wollte,
dass man verstand, dass Fähner am Ende angekommen war. Ich sprach, bis ich
glaubte, das Gericht erreicht zu haben. Als ein Schöffe nickte, setzte ich mich
wieder.
     
    Fähner hatte das letzte Wort.
Das Gericht hört am Ende eines Prozesses den Angeklagten, die Richter sollen
seine Worte in die Beratung mitnehmen. Er verneigte sich, die Hände hatte er ineinandergelegt.
Er hatte die Sätze nicht auswendig lernen müssen, es war die Zusammenfassung
seines Lebens:
    »Ich habe meine Frau geliebt,
und am Ende habe ich sie getötet. Ich liebe sie immer noch, ich habe es ihr
versprochen, sie ist immer noch meine Frau. Das wird sich bis zu meinem Tod
nicht ändern. Ich habe mein Versprechen gebrochen. Ich muss mit meiner Schuld
leben.«
    Fähner setzte sich, verstummte
und starrte wieder auf den Boden. Es war still im Saal, selbst der Vorsitzende
wirkte beklommen. Dann erklärte er, dass sich das Gericht zur Beratung
zurückziehe, das Urteil werde am nächsten Tag verkündet.
     
    An diesem Abend besuchte ich Fähner
noch einmal im Gefängnis. Es gab nicht mehr viel zu sagen. Er hatte einen zerknitterten
Umschlag mitgebracht, aus dem er das Bild der Hochzeitsreise zog. Er strich mit
dem Daumen über Ingrids Gesicht. Die obere Schutzschicht hatte sich längst von
dem Foto gelöst, ihr Gesicht war fast weiß.
     
    Fähner wurde zu drei Jahren
verurteilt, der Haftbefehl wurde aufgehoben, und er wurde aus der
Untersuchungshaft entlassen. Er konnte die Strafe im offenen Vollzug verbüßen.
Offener Vollzug bedeutet, dass der Verurteilte in der Haftanstalt übernachten
muss und sich tagsüber in Freiheit aufhalten darf. Voraussetzung ist, dass er
einem Beruf nachgeht. Es war nicht einfach, einen neuen Beruf für einen
72-Jährigen zu finden. Schließlich fand seine Schwester die Lösung: Fähner
meldete ein Gewerbe zum Obsthandel an - er verkaufte die Äpfel aus seinem
Garten.
     
    Vier Monate später traf in
meiner Kanzlei eine Kiste mit zehn roten Äpfeln ein. In dem beigelegten
Umschlag befand sich ein einzelnes Blatt Papier:
     
    »In diesem Jahr sind die Äpfel
gut.
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