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Von ganzem Herzen Emily (German Edition)

Von ganzem Herzen Emily (German Edition)

Titel: Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
Autoren: Tanya Byrne
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Handcreme. Ich hielte inne und starrte die Handcreme entgeistert an. Dass Doktor Gilyard so normale Dinge tat, wie eine Handcreme zu benutzen, ging über meine Vorstellungskraft. In der ganzen Zeit habe ich sie kein einziges Mal von ihrem Stuhl aufstehen sehen. Sie sitzt dort, wenn ich ihr Büro verlasse, und in meiner Phantasie bleibt sie auch dort sitzen, bis ich es eine Woche später wieder betrete. Sie verlässt das Zimmer nicht. Sie geht nicht herum und isst nichts und fragt sich am Morgen auch nicht, was sie denn anziehen soll.
    Die halb leere Schachtel mit den Zigaretten lag in der untersten Schublade, und ich nahm eine davon heraus und zündete sie mit dem Feuerzeug an, das danebenlag. Ich schloss die Augen und atmete den Zigarettenrauch tief ein. Es schmeckte widerlich – ich hatte noch nicht mal Lust auf eine Zigarette –, aber als ich rauchumwölkt zu meinem Stuhl zurückging, hatte ich das Gefühl, irgendwo auf einer imaginären Anzeigetafel einen weiteren Punktgewinn verzeichnet zu haben.
    »Was wolltest du denn von mir hören, Emily?« Doktor Gilyard fuhr fort, als hätten sich die letzten Minuten nicht ereignet. Sie übersprang sie einfach.
    Ich blickte auf das Ende meiner Zigarette und blies auf die Glut. »Dass ich böse bin.«
    »Bist du denn böse, Emily?«
    »Sagen das nicht alle?«
    Sie nahm wieder ihre Brille ab und sah mich an. »Wer behauptet denn, dass du böse bist?«
    »Alle.« Juliet. Die Polizei. Die Zeitungen. Die Mädchen aus dem College, die mich kaum kannten und jetzt in den Nachrichten den Kopf schüttelten, tief seufzten und behaupteten, sie hätten schon immer gewusst, dass mit mir etwas nicht in Ordnung sei.
    »Willst du deshalb nicht mit mir darüber reden, Emily, weil du glaubst, dass ich sowieso schon weiß, was passiert ist?«
    »Sie wissen genau, was passiert ist.«
    Sie setzte ihre Brille wieder auf und schrieb etwas in ihr Notizbuch. Ich hätte mich am liebsten vorgebeugt und ihr das Notizbuch aus der Hand gerissen, um zu lesen, was sie dort über mich hineinschrieb. Ganz bestimmt hat sie ein solches Notizbuch für jede von uns. Ich stelle mir diese Bücher mit unseren Geheimnissen manchmal vor, alle in einer Reihe aufgestellt, wie Marmeladengläser in einem Kellerregal.
    »Sie wissen alles über mich«, sagte ich.
    Sie blickte erneut auf. »Ach ja?«
    »Und was Sie nicht wissen, können Sie googeln.«
    »Ist es das, was du bist, Emily? Das, was andere Leute über dich sagen?«
    »Das sind wir doch alle«, sagte ich achselzuckend und nahm einen tiefen Zug von meiner Zigarette. »Der Mensch, an den sich die anderen erinnern, wenn er den Raum verlassen hat. Mehr bleibt von einem doch nicht.«
    »Und woran denke ich bei dir, Emily?«
    »An das, was ich getan habe.«
    »Und was hast du getan?«
    »Sie wissen, was ich getan habe.« Ich versuchte, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken, aber wir hörten es beide. Ich war wütend auf mich. Das macht sie jedes Mal mit mir. Als wollte sie, dass ich es sage, wieder und immer wieder, damit ich schließlich selbst daran glaube und damit es mir leidtut.
    »Ich weiß, für welche Tat man dich festgenommen hat, Emily.«
    Ich schnippte die Asche meiner Zigarette achtlos auf den Boden. »Sonst noch was?«
    »Erzähl du es mir!«
    Ich blickte ihr ins Gesicht. »Warum wollen Sie so viel über mich wissen?«
    Sie schaute auf ihr Notizbuch. »Ich will dir helfen zu verstehen, warum du es getan hast, Emily.«
    »Ich weiß, warum ich es getan habe.«
    »Dann sag es mir. Warum hast du es getan?«
    Da hätte ich ihr den Brief an Juliet geben können. Ich hätte ihr sagen können, dass Juliet mich dazu gebracht hatte, es zu tun. Dass ich vorher ein Mädchen war wie alle anderen in meinem Alter auch, dickköpfig, unruhig und melodramatisch. Dass ich häufig etwas Falsches sagte und Spiegel zerschmetterte und viele Songtexte nicht richtig verstand; aber meine Stimme erklang immer klar und rein, selbst wenn die Worte falsch waren. Dass ich Münzen in Brunnen warf und mir am 11 . 11 . um 11  Uhr  11 etwas wünschte, weil ich glaubte, wenn ich etwas haben wollte, dann reichte das aus – ich bräuchte mir bloß ganz fest etwas zu wünschen, und dann bekäme ich es auch. Und ich wünschte mir etwas, nicht den Weltfrieden oder viel Geld oder Gesundheit oder irgendetwas in der Art, was man sich eben normalerweise so wünscht. Nein, ich wünschte mir etwas anderes. Ich wollte etwas Besonderes sein. Ich wollte eines von diesen Mädchen sein,
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