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Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Titel: Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
Autoren: Sylvester Walch
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beeinträchtigen und ihre Inhalte verzerren können. Nur wenn wir diese stets stillschweigend mitbedenken, können wir vermeiden, dass sich individuelle Lebenseinsichten zu Ideologien verfestigen.

Einflüsse auf die Introspektion
    Das Streben nach Glück und Zufriedenheit, von dem wir alle angetrieben werden, kann zu einer Falle werden, insbesondere in Lebenskrisen. Dann ergreift man gerne den nächsten Strohhalm, der Besserung verspricht, ohne vielleicht genau zu prüfen, ob das Angebotene auch wirklich weiterbringt. Die vermeintliche Aussicht auf Heilung und Verbesserung der Lebensqualität vermindert die kritische Wahrnehmung und macht uns verführbar für einfache Erklärungen. Das ist aber in Anbetracht unseres Wissensstandes gefährlich. Zu komplex ist die Natur des Menschen, als dass triviale Rezepte, wie sie von Sekten, politischen Vereinigungen und charismatischen Bewegungen präsentiert werden, auf Dauer hilfreich sind.
    Deshalb sollten wir von dem Grundsatz ausgehen, dass jede Erkenntnis unvollständig, vorläufig und selektiv ist. Sie wird durch genetisch-biologische, individuell-subjektive und kulturell-gesellschaftliche Raster vermittelt und gefärbt.
    Jeder Mensch muss sich im Leben und in seiner Umgebung zurechtfinden, entsprechend seinem Alter, seiner Zeit und seiner Kultur. Dafür werden innere Schemata ausgebildet, mit deren Hilfe wir wahrnehmen und handeln können. Sie unterliegen einem beständigen Veränderungsprozess, der nach dem berühmten Entwicklungspsychologen Jean Piaget hauptsächlich durch zwei Mechanismen gesteuert wird: die Assimilation, durch die wir das, was auf uns einwirkt, an unsere inneren Erfahrungsstrukturen anpassen, und die Akkommodation, durch die wir, gemäß den neuen Erfahrungen, unsere Erfassungskapazität erweitern. Der Akkommodationsvorgang ergreift alle Schemata, die auf einer bestimmten Entwicklungsstufe das Weltbild des Kindes strukturieren. Immer dann, wenn die Assimilation fehlschlägt, muss akkommodiert werden. Das Zusammenspiel dieser progressiven Differenzierungs- und Integrationsschritte kann durch liebevolle elterliche Beziehungen, also gute Bindungserfahrungen, gefördert werden. Das sind die Fundamente gelingender Entwicklungsprozesse. Bei chronischen Defiziten oder schweren Traumata müssen sich die einst beweglichen Schemata zu starren Mustern verfestigen, um befürchteten weiteren Schaden abzuwenden. Im Erwachsenenalter werden sie als Vorurteile oder eingeschränkte Erlebnis- und Handlungsräume sichtbar. So lassen wir vielleicht einen Anhalter nicht ins Auto steigen, weil wir befürchten, dass er uns bedrohen könnte. Handeln wir nun, entgegen unseren Ängsten, einmal anders und erleben während der gemeinsamen Fahrt eine berührende Begegnung, werden wir in Zukunft vielleicht unser Verhalten verändern.
    Über Schemata werden im Bewusstsein pragmatische Selbst- und Weltbilder entworfen, die den Menschen dazu befähigen, ganzheitlich wahrzunehmen und erfolgreich zu handeln. Ohne sie wären wir lebensuntüchtig. Es ist dabei nicht wichtig, wie die Welt wirklich ist, sondern dass wir uns darin bewegen können. Wir stülpen der Wirklichkeit unsere Sinnkonzepte, Gedanken und Einstellungen über. Gemäß unserem unbewussten Erleben inszenieren und konstruieren wir die Wirklichkeit. Das Ausmaß und die Kraft der daraus hervorgehenden Gedanken zeigen sich eindrucksvoll in selbsterfüllenden Prophezeiungen. Je mehr jemand erwartet, sexuell zu versagen, desto wahrscheinlicher wird er es. Gerne nützen gerade Sportler vor wichtigen Wettkämpfen die Wirksamkeit positiver Gedanken und Vorstellungen.
    Dass wir die Welt als unabhängig von uns existierend erleben, durch konstante Koordinaten verortet, ist auch einer Vielzahl innerer perspektivischer Konstruktionen zu verdanken. Das ist aber nur möglich, wenn wir auch unserem Ich und Selbst, unserer individuellen personalen Identität, eine lokale Stabilität verleihen. Die Konstruktionen unabhängiger Wirklichkeiten sind demgemäß pragmatische Hilfsvorrichtungen, um besser mit der Welt und anderen Menschen in Beziehung treten zu können. In erweiterten Bewusstseinszuständen entpuppen sich jedoch die vermeintlich unumstößlichen Grenzen und stabilen Bezugspunkte des Individuums als Illusion. Auch die Kognitions- und Hirnforschung sieht mittlerweile das individuelle Selbst nicht als festen Ort oder von Dauer, sondern als eine temporäre Serie mentaler und körperlicher Ereignisse, die eine gewisse kausale
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